500 Familien müssen sich in Mülheim derzeit Sorgen machen, dass sie im Sommer für ihr Kind keine Betreuung haben, darunter 300 Familien mit Kindern unter drei Jahren. Um den erstmals bestehenden Rechtsanspruch auf einen U 3-Platz zu erfüllen, steht die Stadt vor einem großen Problem. Das Amt für Kinder und Jugend sucht derzeit mit dem Immobilienservice nach ungenutzten städtischen Gebäuden, um dort kurzfristig Raum für Kinder zu schaffen. Zugleich plant die Stadt, bestehende Kitas überzubelegen.
Vergabe nach Punktesystem
Wie die stellvertretende Amtsleiterin Lydia Schallwig im Gespräch mit der WAZ erklärt, sei daran gedacht, jede Kita-Gruppe um ein bis zwei Kinder aufzustocken, ausgenommen seien Gruppen, in denen behinderte und nicht behinderte Kinder zugleich betreut werden. „Unser Ziel ist es, bis zum Sommer auf diese Weise 200 bis 300 Plätze zusätzlich zu schaffen“, so Lydia Schallwig. Wer keinen Platz erhält, wird auf einer Warteliste geführt.
Die Vergabe der Kita-Plätze erfolgt nach einem Punkte-System. Nachgewiesene Berufstätigkeit, die Aufnahme einer Arbeitsstelle, Geschwister in der Kita – das seien Gründe, die berücksichtigt würden, so die stellvertretende Amtsleiterin. Die Kindertagesstätten könnten aber auch aus besonderen sozialen Gründen ein Kind „vorziehen“.
Acht betroffene Mütter berichten
Auch die Politik in Mülheim will sich um eine Entschärfung der Situation bemühen. Die SPD will die Situation der Familien Anfang März bei der Aufstellung ihres Mülheim-Planes für die nächsten fünf Jahre verbessern. Die CDU hat „Familienfreundlichkeit“ als ein Hauptanliegen für dieses Jahr genannt.
Der Mangel an Kita-Plätzen, gerade für Kinder unter drei Jahren, belastet viele Familien stark. Acht betroffene Mütter berichteten beim Besuch der WAZ-Redaktion über ihre Sorgen und Probleme. Einige denken darüber nach, ob sie einen Platz einklagen sollen. So zum Beispiel Anne Krüger, die Mutter der anderthalbjährigen Lea. Die 33-Jährige ist „wütend und enttäuscht“, denn: „Alle sagen ,Bekommt bloß Kinder’ – aber, wenn’s soweit ist, dann stehst du da. . .“ In zwölf städtischen bzw. kirchlichen Kindergärten hatte sie ihre Tochter vorsorglich angemeldet, und zwar schon Anfang 2012. Doch Rückmeldungen gab es keine. Für Krüger ist das ein Problem: Sie ist finanziell darauf angewiesen, arbeiten zu gehen. Und noch etwas: Wenn Krüger an die Betreuung für Lea denkt, dann denkt sie nicht bloß an irgendeine Form von Verwahrung – „mein Kind soll betreut und gefördert werden“.
„Ausbildung in Gefahr“
Yvonne Görkes (32), Mama von Fynn (1) und drei älteren Mädchen, aus Speldorf: „Klage? Ich hoffe, so weit kommt es nicht. Bis vor kurzem war ich noch optimistisch – aber offenbar hat sich keiner Gedanken gemacht, wie sich die Plätze aus dem Boden stampfen lassen. Das ärgert mich. Ich bin in der Ausbildung zur Erzieherin und jetzt besteht die Gefahr, dass ich das zweite Jahr nicht antreten kann. Das ist doch ein Witz: Der Stadt fehlen Erzieher und ich bin auf dem Weg dahin, kann aber nicht weitermachen, weil ich Fynn nicht untergebracht bekomme. Wir haben ihn in fünf Einrichtungen angemeldet – erfolglos. Man hat mir sogar gesagt, dass wir auch im nächsten Jahr Probleme kriegen: Weil Fynn im August Geburtstag hat, sozusagen in einem blöden Monat. Die Kindergärten vergeben die Plätze nach Geburtsdaten. Sie fangen im Herbst an. Bis sie beim Sommer sind, ist alles vergeben.“
„Kita ist gut fürs Kind“
Miriam Koenigsmann (33) und Jan (geboren im Juni 2011): „Wir suchen nach einer Betreuung für Jan, weil ich mehr arbeiten muss. Ich habe mit meinem Mann eine Zahnarztpraxis und teile mir im Moment eine Stelle mit ihm. So ist immer einer zu Hause – oder die Oma springt ein. Das tut sie zweimal wöchentlich, mehr ist aber nicht drin. Mit einer Betreuung könnte ich von 13 auf mindestens 20 Stunden in der Woche aufstocken, die Vormittage arbeiten. Das ist wirtschaftlich nicht unbedingt nötig, das Geld ist nicht unser Hauptaugenmerk. Obwohl: Die laufenden Kosten einer Praxis bleiben ja bestehen. Wir haben Jan bei fünf Kitas in Mülheim angemeldet, die alle bei uns in der Nähe oder auf dem Weg zur Arbeit liegen. Der Kindergarten ist gut, um Sozialverhalten zu erlernen und für die sprachliche Entwicklung. Die Kinder lernen so viel voneinander. Mich würde interessieren, nach welchen Kriterien die Plätze vergeben werden und ob es dabei wirklich auch auf den Geburtsmonat ankommt. So ein bisschen setze ich noch aufs Nachrückverfahren, aber viel Hoffnung habe ich nicht mehr. Wir werden uns wohl bald nach einer Tagesmutter umsehen müssen.
„In Mintard rumort es“
Claudia Weis (36) mit Anna (geboren im April 2011): „Bei uns in Mintard rumort es schon länger in Sachen Kinderbetreuung. Wir sind evangelisch, gehören deshalb zur Gemeinde in Linnep. Die haben einen schönen Kindergarten und wenn Anna da hin gehen könnte, wäre das perfekt. Aber laut Aussage des Kindergartens nimmt Ratingen nur noch Ratinger Kinder auf. Wir haben also versucht, etwas in Saarn zu finden. Da hieß es, sie nehmen uns nur auf, wenn wir Gemeindemitglieder sind. Wir haben einen Antrag auf Umgemeindung gestellt, gehören jetzt zur Gemeinde Broich/Saarn. Trotzdem haben wir in keiner der evangelischen Einrichtungen einen Platz erhalten. Eine Tagesmutter ist für uns keine Lösung; wenn die krank ist, wüssten wir nicht, wie wir das regeln sollen. Die Großeltern wohnen weit weg. Vielleicht bekommen wir ja doch noch einen Platz in Mintard. Ich habe gehört, dass die Stadt und die katholische Gemeinde Saarn eine Gruppe im leerstehenden Kindergartengebäude einrichten will. Andernfalls können wir Anna in einer U3-Einrichtung der Uni Duisburg/Essen unterbringen. Ich arbeite dort als Physikerin. Dann aber geht die Suche schon bald weiter – Anna wird ja im April nächsten Jahres schon drei.“
„Ich bin wütend und enttäuscht“
Anne Krüger (33) und Tochter Lea (geboren im Juli 2011) aus Broich: „Alle sagen ,Bekommt bloß Kinder’ – aber, wenn’s soweit ist, dann stehst du da. . . Ich bin wütend und enttäuscht, dass ich keinerlei Rückmeldung von Kindergärten bekommen habe. Dabei habe ich Lea schon Anfang 2012 bei zwölf Einrichtungen angemeldet, bei städtischen und evangelischen. Aber als ich jetzt da angerufen habe, hieß es nur: ,Nee, auf unserer Liste stehen Sie nicht.’ Ich bin zehn Wochen nach Leas Geburt wieder arbeiten gegangen, zunächst nur für acht Stunden. Ich wollte meinen Job als Juristin nicht verlieren, wollte im Thema bleiben. Mittlerweile habe ich um einige Stunden aufgestockt, weil die Oma bereit war, auf Lea aufzupassen. Doch ich habe ihr versprochen, dass sie das nur ein Jahr lang machen muss. Ich bin davon ausgegangen, dass wir bis dahin einen Kindergartenplatz gefunden haben. Finanziell bin ich darauf auch angewiesen, unser Leben basiert auf zwei Gehältern. Wir haben Eigentum – und die Bank möchte ihr Geld haben. Bei der Stadt hat man mit mir über Tagesmütter gesprochen; aber davon bin ich noch nicht überzeugt. Lea hat nichts davon, wenn sie zum Beispiel mit drei Säuglingen zusammen ist. Sie soll gefördert und betreut werden – nicht nur verwahrt. Wir stellen uns jetzt schon die bange Frage, ob sie mit drei Jahren überhaupt einen Platz bekommt. Und wir denken auch darüber nach, den Rechtsanspruch geltend zu machen.
„Ich werde den Rechtsanspruch vom Jugendamt prüfen lassen“
Christina Noe (31) ist Mutter von Helena (geb. im Mai 2011) und Florian (geb. im Dezember 2012): „Eigentlich wollte ich erst einen Kindergartenplatz haben, wenn Helena drei ist. Doch als ich in den Einrichtungen nachgefragt habe, hieß es: ,Wenn sie erst mit drei kommt, dann hat sie gar keine Chance. Melden Sie sie bloß jetzt schon an.’ Also habe ich das getan und trotzdem gerade die fünfte und letzte Absage bekommen. Dabei hätte ich sogar freiwillig ein Jahr bezahlt, damit wir auf alle Fälle einen Platz sicher haben. Ich bin Juristin und habe mir deshalb schon Gedanken gemacht über eine Klage. Doch da sind noch Fragen zu klären: Gibt es noch etwas im Kleingedruckten? Wie ist der Begriff Bedürftigkeit zu verstehen? Ich werde den Rechtsanspruch aber auf alle Fälle vom Jugendamt prüfen lassen. Und würde das auch jedem anderen raten. Es geht ja auch um Themen wie Schadensersatz, wenn zum Beispiel höhere Kosten anfallen, weil das Kind durch eine Tagesmutter betreut werden muss. Mir ist wichtig, dass mein Kind soziale Strukturen kennenlernt; ich habe die Kindergarten-Zeit selbst genossen: das Krippenspiel, das Laternebasteln. . . Aber ich habe jetzt schon Sorge, dass Helena auch nächstes Jahr schlechte Karten hat.“
„Wir denken ernsthaft über eine Klage nach“
Melanie Lüttgens (35) mit Sophie (geboren im Juni 2011): „Wir wohnen in Saarn, ziehen aber nach Heißen um. Deshalb haben wir uns in beiden Stadtteilen angemeldet, in sieben städtischen und kirchlichen Einrichtungen insgesamt. Ich habe alles abtelefoniert; das Einzige, was mir in Aussicht gestellt wurde, ist ein 25-Stunden-Platz. Das bringt mir aber nichts; ich arbeite als Bankerin in Dortmund und brauche mindestens eine Betreuung von 35, besser noch von 45 Stunden. Zurzeit holt Sophies Vater sie oft ab und wir haben eine Tagesmutter. Doch die ist viel teurer als der Kitaplatz; wir haben nahezu die doppelten Kosten. Das bedeutet, dass wir finanzielle Einschränkungen im Alltag haben. Falls Sophie keinen Platz mehr bekommt, denken wir ernsthaft über eine Klage nach. Zumindest den Ausgleich für die Mehrkosten möchten wir erstattet haben.“
„Ich muss arbeiten –bei drei Kindern ist das Geld knapp“
Daniela Langnickel (31), Mutter von Timo (1) und zwei älteren Mädchen: „Ich fühle mich sehr enttäuscht und im Stich gelassen. Früher hatten wir in Mülheim mit dem Kindergarten keine Probleme. Dann sind wir vorübergehend nach Haltern gezogen – und jetzt ist es schwierig. Timo hat keinen Platz bekommen, obwohl ich ihn bei mehreren Kindergärten angemeldet habe. Und meine mittlere Tochter, die im Sommer in die Schule kommt, findet auch keinen Platz. Man hat mir gesagt, es gibt keine Zuzugsplätze mehr, also Plätze für Kinder, die neu in der Stadt sind. Jetzt fahre ich sie einmal wöchentlich zu ihrem alten Kindergarten in Haltern – das sind 70 km hin, 70 km zurück –, damit sie wenigstens das Vorschulprogramm mitbekommt. Dass die Kinder nicht versorgt sind, ist ein Problem, denn ich muss arbeiten, aus finanziellen Gründen. Mein Mann ist Schichtarbeiter und ich bin Friseurin. Das Geld ist knapp bei drei Kindern, die alle ihre Ansprüche haben. Solange die Betreuung noch nicht steht, fange ich aber gar nicht erst an, mich zu bewerben.“
„Mein Job als Erzieherin liegt jetzt brach“
Claudia Ott (35), Mutter von Milo (1) und zwei älteren Töchtern: „Milo ist oft unausgelastet und sehr übermütig in Beziehung auf Gleichaltrige. Das liegt auch daran, dass er über seine zwei größeren Schwestern viel Input hat. In der Betreuung mit anderen Kindern würde er auch mal einen Dämpfer bekommen – das Erzieherische in einem Kindergarten ist mir sehr wichtig. Bis jetzt haben wir aber noch keinen Betreuungsplatz bekommen, was auch deshalb schade ist, weil ich selbst staatlich anerkannte Erzieherin bin und deshalb nicht wieder in meinem Beruf arbeiten kann, obwohl wir aufs Geld angewiesen sind. Mein Job als Erzieherin liegt also brach, dabei sucht man doch welche. Dass man jetzt sogar darüber nachdenkt, freie Stellen mit ungelernten Kräften zu besetzen, finde ich sehr hart. Beworben haben wir uns bei zwei kirchlichen Kitas, weil uns der religiöse Hintergrund sehr wichtig ist. Und ich habe in einem Gespräch sogar schon mal angeboten: Wenn ihr einen Platz für mein Kind hättet, dann könnte ich bei euch einsteigen. . .“