Mülheim. .

Mülheims Finanzpolitik hat sich in der Frage, ob die Stadt nach ihrer Millionen-Pleite mit Wettgeschäften Haftungsansprüche gegen Banken oder eigene Beamte geltend machen soll, auf Juli vertagt. Dann soll auf Initiative der SPD der Stadtrat entscheiden. Grüne und FDP sehen aufgrund der Komplexität der zwei kurzfristig präsentierten Gutachten der Düsseldorfer Kanzlei Baum, Reiter & Collegen noch Beratungsbedarf.

Es macht sich ein ungutes Gefühl breit: Obwohl auch die Zweitgutachter Ansätze sehen, dass der Stadt bei den verlustreichen Geschäften übel mitgespielt worden ist, schlagen diese vor, einen Großteil der Millionenverluste endgültig abzuschreiben. Die Stadt und die Mehrheit der Politik sind gewillt, sich der nicht unumstrittenen Fachmeinung anzuschließen. Die auf Bank- und Kapitalmarktrecht spezialisierte Kanzlei hat zwei Gutachten zu möglichen Haftungsansprüchen der Stadt am Montag im Finanzausschuss präsentiert.

Gutachten 1: Anspruch auf Schadenersatz

Es wunderte die Politik schon, dass da plötzlich noch Wettgeschäfte waren, die 2008 nicht einer juristischen Prüfung unterzogen worden waren, als das Rechtsamt der Stadt jenes Gutachten erstellt hatte, das keine Haftungsansprüche gegenüber Banken, Ex-Kämmerer Gerd Bultmann und leitenden Beamten im Finanzmanagement der Stadtverwaltung sah. Eva Weber (Grüne) stellte am Montag die Frage, warum das Rechtsamt nicht schon damals alle Wettgeschäfte unter die Lupe genommen habe. Diesen Eindruck, eben umfassend geprüft zu haben, hatte die Stadt stets vermittelt, während sie das Debakel um die Wettgeschäfte ansonsten nur scheibchenweise aufgedeckt hat und weiterhin Fragen hierzu offen sind.

Kämmerer Uwe Bonan musste als Erbe der Geschäfte nun mal wieder erklären, warum erst im vergangenen Jahr die Erkenntnis gereift ist, auch das Schuldenportfolio-Management der West LB einer juristischen Prüfung auf Schadenersatzansprüche zu unterziehen. Man habe deshalb darauf verzichtet, weil in diesen Geschäften bis dato „keine wesentlichen oder dauerhaft negativen Entwicklungen“ zu bilanzieren gewesen seien. Das hat sich geändert. Mit einer Wette auf einen Interbankenzins und auf den Wechselkurs Euro zu Schweizer Franken macht die Stadt aktuell wieder Millionenverluste. Weitere 2,6 Mio Euro sind so schon aus der ohnehin leeren Stadtkasse gerissen.

Zumindest für die Wette auf den Schweizer Franken machen die Gutachter nun Hoffnung. Es gebe „hinreichende Anhaltspunkte für Schadenersatzansprüche gegen die West LB“, fasst die Verwaltung das nicht öffentliche Gutachten von Baum, Reiter & Collegen zusammen. Die Landesbank habe „nicht auf das unverhältnismäßig hohe und intransparente Verlustrisiko dieses Geschäftes hingewiesen, obwohl Absicht der Stadt eine Risikovermeidung war“. Gegen eine anlegergerechte Beratung spreche auch, dass die Bank nicht über den negativen Marktwert der Wette aufgeklärt habe.

Laut Gutachter hat die Stadt unter dem Druck einer Verjährungsfrist von drei Jahren bis Ende 2012 Zeit, Ansprüche gegenüber der West LB geltend zu machen. Sie soll versuchen, diese Ansprüche erst einmal außergerichtlich geltend zu machen. Ein Erfolg wäre für die Stadt auch deshalb wichtig, weil die West LB aktuell nicht bereit ist, die bis August 2015 laufende Wette aufzulösen.

Gutachten 2: Klagerisiko wäre zu hoch

Eine Bestätigung erfuhr das städtische Rechtsamt für seine 2008 getroffene Feststellung, dass bei verlustreichen Geschäften aus den Jahren 2004 und 2007 keine Haftungsansprüche geltend zu machen seien. Sie sollen – auch hierzu gab es eine wiederum überraschende, weil erstmalige Information – mehr als 7 Mio Euro Verlust eingebracht haben. Der bisher genannte Verlust von 6,083 Mio Euro sei immer eine komplette Aufrechnung aller Geschäfte (inklusive 1 Mio Euro Plus im Schuldenportfolio-Management) gewesen, so Kämmerer Bonan.

Also mehr als 7 Mio Euro Verlust in dem Bereich, für den laut Rechtsamt und Gutachter weder Banken noch leitende Beamte der Verwaltung haftbar zu machen sind. Oder besser: Für den eine Klage auf Schadenersatz, abgesehen von der Frage der Verjährung, laut Kanzlei mit unbestimmt hoher Wahrscheinlichkeit keinen Erfolg bringt. Aussichtslos sei sie nicht, hieß es.

Anhaltspunkte für ein Fehlverhalten der Commerzbank und der West LB, die die Stadt gleichzeitig beraten und als Wettpartner auf Kosten eben der Stadt fette Gewinne eingestrichen haben, sehen die externen Gutachter nämlich gleichwohl. Vor allem für den Start des Wettdebakels finden sie kritische Worte. So habe die Commerzbank nicht über den anfänglichen negativen Marktwert der mit erhöhtem Risiko behafteten Wette aufgeklärt. Diesen Verstoß gegen die Pflicht zur anlegergerechten Beratung verfolgen die von der Stadt bestellten Experten aber nicht weiter.

Ebenso fällt auf, dass im Gutachten nicht ein einziges Mal die Rede ist vom Interessenkonflikt, der den Wettgeschäften innewohnt: Die Banken berieten die Stadt und traten gleichzeitig als Gegner der Stadt in der Wette auf – wenn eine gute Beratung der Banken für die Stadt Gewinn gebracht hätte, wäre für die Banken entsprechend ein Verlust herausgesprungen. Steckt also Vorsatz hinter der festgestellten mangelhaften Beratung?, fragte etwa Eva Weber (Grüne). Es würde eine bereits eingetretene Verjährung nach drei Jahren, die die Gutachter feststellen, außer Kraft setzen. Die Expertise sagt hierzu nichts. Auf WAZ-Nachfrage meinte Gutachter Prof. Julius F. Reiter, Vorsatz sei den Banken nicht nachzuweisen. Mit dem offensichtlichen Interessenkonflikt zu argumentieren, hält sein Kollege Olaf Methner nicht für zielführend. Dazu gebe es keine gängige Rechtsprechung, auch das viel beachtete Urteil des Bundesgerichtshofes im März 2011 gegen die Deutsche Bank spare dies aus.

Im Süden der Republik, in der Münchner Kanzlei Rössner Rechtsanwälte, die den Erfolg vor dem Bundesgerichtshof seinerzeit erstritten hat, herrscht eine gegensätzliche Meinung vor. Heute will ein Rechtsanwalt der Kanzlei der WAZ seine Sichtweise näher erläutern.

Im Ausschuss machten die von der Stadt beauftragten Gutachter Reiter und ­Methner derweil deutlich, dass sie eine Stärkung der Bankkunden in der Rechtsprechung zu Wettgeschäften vermissen. Seine Kanzlei, so Reiter, habe bereits zahlreiche Kommunen und mittelständische Unternehmen in der Sache vertreten. „Die Tatsache, dass eine Bank nicht haftbar gemacht werden kann“, sagt er, „heißt nicht, dass sie gut beraten hat. Banken führen Anleger bewusst hinters Licht.“ Das Urteil des Bundesgerichtshofes behandele eine Wette, die deutlich komplexer und daher undurchsichtiger für die Kunden sei als all das, auf das sich die Stadt Mülheim zwischen 2003 und 2007 eingelassen habe. Das lasse eine Klage zum „Kostenrisiko“ werden.

Stimmen aus der Politik: Als Freizeitpolitiker „hoffnungslos überfordert“

Die Stadt möge „nicht gutes Geld dem schon verlorenen hinterherwerfen“, so Wilfred Buß (SPD) am Montag. Die Geschäfte damals seien spekulativ, aber keine Zockerei gewesen – auch das zeige das Gutachten. „Zockerei wäre es, jetzt zu klagen“, so der finanzpolitische Sprecher der SPD zu den Altgeschäften. Die Wertung der Gutachter hierzu hält Buß für nachvollziehbar und „abschließend“. Sie seien notwendig und richtig, um „einer Legendenbildung vorzubeugen“.

Heidelore Godbersen (MBI), Eva Weber (Grüne) und Achim Fänger (Wir-Linke) äußerten ihre Zweifel am Zweitgutachten. Fänger äußerte gar Zweifel, ob etwas anderes als die Bestätigung der Auffassung des Rechtsamtes überhaupt zu erwarten gewesen sei. Rechtsdezernent Peter Steinfort („Wir haben keinen Einfluss genommen“) und die Gutachter widersprachen. Die externen Rechtsexperten bejahten zwar, das städtische Gutachten mit der Beauftragung vorgelegt bekommen zu haben. Man habe es aber „zur Seite geschoben“, so Methner.

Die Stadt möge doch klagen, so Heidelore Godbersen (MBI) – „um es einfach mal zu versuchen“ und eine andere Rechtsprechung zu provozieren. Sie machte die vielleicht treffendste Feststellung der Sitzung: Als Freizeitpolitiker seien die Ratsvertreter mit dieser Materie „hoffnungslos überfordert“. Eckart Capitain (CDU) sieht im Wettdebakel der Stadt aber auch einen klaren Auftrag an die Ratspolitik: „Wir sind zu mehr Wachsamkeit aufgefordert.“