Mülheim..

Unternehmer in spe brauchen kein Latein – auf diese simple These lassen sich Aufrufe u.a. von Arbeitgebern bringen. Immerhin sei das moderne Wirtschaftsleben auf den Austausch mit anderen Ländern ausgerichtet, da komme man mit Spanisch oder Chinesisch als zweiter Fremdsprache nach Englisch weiter. Ob man Lateinunterricht wirklich ad acta legen sollte, fragte WAZ-Mitarbeiterin Julia Blättgen zwei Lateinlehrer: Ulrich Stockem, Leiter der Otto-Pankok-Schule, und seine Kollegin Gabriele Buchenthal.
 

Arbeitgeber raten jetzt von der „toten Sprache“ Latein ab, dabei ist sie ja nicht erst kürzlich verstorben . . .

Gabriele Buchenthal: Die Leute sagen das immer so: tote Sprache. Dabei sprechen wir Latein täglich, wir wissen es nur nicht. Transport, Nase, Nivea – das sind alles lateinische Worte.

Ist es für Schüler, die ihre berufliche Zukunft in der Wirtschaft sehen, vertane Zeit, Lateinvokabeln zu pauken?

Buchenthal: Wer das sagt, denkt nur an ökonomische Gesichtspunkte. Die Bildung eines Menschen hängt aber nicht nur davon ab. Es ist ein verkürzter Bildungsbegriff, allein von der Wertung von Wissen auszugehen. Wenn wir auf Latein verzichten, verzichten wir auf einen großen Teil des europäischen Erbes, das in der Antike beginnt und sich bis ins Mittelalter erstreckt. Das wird in keinem anderen Fach unterrichtet. Latein schafft Schülern Zugang zum humanistischen Erbe.

Warum raten Sie zu Latein?

Buchenthal: Latein ist historische Kommunikation. Wir kommunizieren aus unserer Zeit mit der Vergangenheit. In der Oberstufe werden etwa philosophische und ethische Texte gelesen, die einen neuen Blick auf unsere heutige Zeit und die Auseinandersetzung mit der Gegenwart ermöglichen. Ciceros Staatsphilosophie ist hochaktuell.

Ulrich Stockem: Und Latein schult kognitive Fähigkeiten in besonderem Maße. Diese sind ein wichtiger Faktor für schulischen Erfolg in allen Fächern und so auch entscheidend für das spätere Berufsleben. Moderner Lateinunterricht bekommt es auch hin, dass Schüler eine hohe Empathiefähigkeit entwickeln.

Buchenthal: Latein ist eine Reflexionssprache, keine Kommunikationssprache, aber das muss man nutzen. Man kann mit Hilfe von Latein über andere Sprache nachdenken.

Stockem: Auch für einen Schüler, der ein eher logisch-mathematischer Typ ist, ist die Sprache gut geeignet. Sie schult abstraktes Denken und das Arbeitsgedächtnis.

Buchenthal: Man muss sich die Sätze erknobeln. Jeder Buchstabe zählt. Man muss genau hinschauen. Wir nennen das mikroskopisches Lesen. Das benötigen beispielsweise auch Bauingenieure. Latein erfordert zugleich Geduld und eine hohe Frustrationstoleranz. All das hilft im Leben.

Apropos moderner Lateinunterricht: Es gibt da von ehemaligen Schülern düstere Erinnerungen an stures Übersetzen und endloses Durchdeklinieren . . .

Stockem: Nach der großen Krise in den 60er-, 70er-Jahren gab es eine Didaktikbewegung, um den Lateinunterricht auf eine andere intellektuelle Ebene zu stellen. Stures Übersetzen gibt es nicht mehr.

Buchenthal: Ich frage zum Beispiel Vokabeln mit dem Ball ab. Da ist viel Energie drin, wir lernen mit dem ganzen Körper. Oder wir deklinieren gemeinsam. Da steckt viel Kraft hinter und viel Spaß.

Das Otto-Pankok-Gymnasium ist die einzige Schule in Mülheim, die Latein ab der fünften Klasse als zweite Fremdsprache anbietet. Wird das angenommen?

Buchenthal: Ja. In diesem Schuljahr haben 32 Schüler in der Fünf mit Latein begonnen, das sind zwei Kurse. Im nächsten Schuljahr haben wir ebenso viele Kurse.

Latein gilt nicht gerade als hip oder cool. Kann das für eine Schule, die dies in ihrem Profil hat, zu einem Imageproblem werden?

Stockem: Es gibt Eltern, denen eine humanistische Grundbildung wichtig ist. Es gibt aber auch Leute, die Latein für verstaubt halten. Natürlich muss sich eine Schule heute zu den modernen Fremdsprachen bekennen. Wir tun das. Man muss bei uns nicht Latein nehmen. Wir bieten ab dem nächsten Schuljahr Spanisch erstmals ab der achten Klasse an, so dass die Schüler die Möglichkeit haben, es später als Leistungskurs zu wählen. All das sind Möglichkeiten, die die Jugendlichen haben. Ein Ausschlussverfahren ist meiner Meinung nach falsch. Es sollte nicht heißen: Spanisch statt Latein, sondern Spanisch und Latein.