Mülheim. .
Drei Jugendliche (15, 16 und 17 Jahre) stehlen im Rhein-Ruhr-Zentrum Unterwäsche. Als der Ladendetektiv sie erwischt, wird er mit einem Schlagring im Gesicht verletzt – so geschehen vor wenigen Wochen in Mülheim. Ein Anlass für die WAZ, mit NRW-Justizminister Thomas Kutschaty über das Thema Jugendkriminalität zu sprechen.
Ein Blick auf die Mülheimer Statistik verrät: 88 Prozent der Tatverdächtigen bei Raubüberfällen im öffentlichen Raum im Jahr 2011 in Mülheim waren jünger als 21 Jahre. Bei allen Straftaten waren 22,6 Prozent der Verdächtigen unter 21 Jahre alt. Landesweit ist die Zahl der tatverdächtigen Jugendlichen im vergangenen Jahr um 8,4 Prozent gesunken. Auch die Verurteilungen sind rückläufig.
Herr Minister, Sie haben die Bekämpfung von Jugendkriminalität als „Daueraufgabe“ der Landesregierung bezeichnet. Wieso?
Thomas Kutschaty: Schwere Kriminalitätsfälle jugendlicher und heranwachsender Täter, wie zum Beispiel die jüngst wieder zu erlebenden Gewalttaten in U-Bahnen, verunsichern unsere Gesellschaft zutiefst. Die Bewältigung dieser Erscheinungen ist eine zentrale kriminalpolitische Herausforderung. Sie kann weder das Strafrecht noch die Justiz allein bewältigen. Vielmehr geht es um eine gesamtgesellschaftliche und ressortübergreifende Aufgabe.
Dazu bedarf es der Zusammenarbeit mit den Kommunen und der Vernetzung aller beteiligten Einrichtungen. Es gibt auch finanzielle Aspekte: Ein Hafttag kostet pro Person durchschnittlich 105,71 Euro. Das ist Geld, das wir sinnvoller einsetzen können.
Es entsteht oft der Eindruck, dass Jugendliche besonders gewalttätige Straftaten begehen. Ist dies statistisch belegbar?
Die Anzahl jugendlicher Tatverdächtiger bei Gewaltdelikten ist seit 2007 von 11 700 auf 8600 im Jahr 2011 gesunken. Von daher kann ich Ihren Eindruck nicht teilen. Ich will dabei ausdrücklich klarstellen, dass jeder Fall eines Gewaltdelikts einer zu viel ist. Doch sollten wir unsere Jugend nicht schlechter machen als sie ist.
Muss sich die Zeitspanne zwischen der begangenen Straftat eines Jugendlichen und der Verurteilung verringern?
Hier stehen wir vor einem Interessenkonflikt. Auf der einen Seite muss darauf geachtet werden, dass der junge Mensch seine Straftat und die folgende Reaktion noch miteinander in Verbindung bringen kann. Deshalb dürfen die Verfahren nicht zu lang sein. Auf der anderen Seite brauchen wir auch ein faires Verfahren für den Jugendlichen. Wir dürfen die Rolle der Jugendgerichtshilfe, die die sozialen Rahmen- und Persönlichkeitsbedingen ermittelt, nicht verkennen. Nur, wenn wir genügend vom Jugendlichen und seinen Verhältnissen wissen, können wir wirkungsvolle Maßnahmen gestalten.
Sie wollen im Sommer den Jugendstrafvollzug in freien Formen einführen. Was versprechen Sie sich davon?
Wir starten ein Pilotprojekt in Dormagen. Der Jugendstrafvollzug in freier Form ist eine besonders intensiv-pädagogisch ausgestaltete Maßnahme, bei der Jugendliche durch hoch qualifiziertes Personal betreut werden. Sie werden etwa qualifiziert, lernen einen geregelten Lebensalltag zu haben. Es gibt bessere Hilfestellungen für die Zeit danach und eine Eins-zu-eins-Betreuung.
Wie beurteilen Sie den von der Bundesregierung vorgeschlagenen Warnschussarrest?
Ich halte nichts davon. Der vorgeschlagene Warnschussarrest neben einer zur Bewährung ausgesetzten Bewährungsstrafe hat keine abschreckende Wirkung auf die Jugendlichen. Ich gebe zu bedenken, dass die Rückfallquote nach verbüßtem Jugendarrest rund 60 Prozent beträgt. Ich halte es für sinnvoller, dass man durch geeignete Bewährungsauflagen dem Jugendlichen seine Tat vorführt.
Welche Intensivtäter-Projekte unterstützt Ihr Ministerium?
Eine Sonderstellung nimmt das Kölner „Haus des Jugendrechts“ ein. Staatsanwaltschaft, Polizei und Jugendhilfe arbeiten dort zusammen. Wir sind im Gespräch mit weiteren Städten und prüfen den konkreten Bedarf vor Ort.
Flächendeckend wollen wir den „Staatsanwalt für den Ort“ einführen. Das ist auch interessant für Mülheim. Der „Staatsanwalt für den Ort“ ist für alle Jugendstrafverfahren in einer bestimmten Region zuständig. Ein Vorteil ist, dass man Strukturen in einer Stadt besser erkennt, wenn sich etwa irgendwo eine Jugendbande bildet.
Sie sind Vater dreier Kinder. Wie können Eltern ihre Kinder vor dem „Abrutschen“ in die Kriminalität schützen?
Ein 100-prozentiges Patentrezept gibt es nicht. Ganz wichtig ist, dass wir uns Zeit nehmen für unsere Kinder und sie früh ernst nehmen, sie stärken und stützen. Wir sollten versuchen, selbst ein Vorbild zu sein. Das ist nichts, was mit Geld zu tun hat.