Mülheim.

Sie sind gut ausgebildet, anpassungsfähig, kreativ – Hartmut Gieske, Geschäftsführer der Energieversorgung Oberhausen (EVO), ist voll des Lobes über die Fähigkeiten von Menschen mit Behinderung. 28 sind in dem Unternehmen tätig. Bei einer Mitarbeiterschaft von 433 erreicht die EVO eine Beschäftigungsquote von 6,47 Prozent. Nicht viel? Für private Unternehmen in der Region Mülheim-Oberhausen, die Jobs auf dem ersten Arbeitsmarkt anbieten, ist das – leider – schon ein Spitzenwert.

Viel Luft nach oben gibt es in den meisten Unternehmen, glaubt auch Raimund Becker, Vorstand der Bundesagentur für Arbeit, und fordert: „Vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels dürfen wir dieses Potenzial nicht ungenutzt lassen.“ Um die Fähigkeiten von Menschen mit Behinderung vor allem den Unternehmern schmackhaft zu machen, startete die Bundesagentur gestern eine bundesweite Woche der Inklusion „Schätze für den Arbeitsmarkt heben“.

54 Prozent verfügen über eine betriebliche Ausbildung, 4 % über einen akademischen Abschluss. „Der Fachkräfteanteil ist so groß wie bei nicht behinderten Arbeitslosen“, sagt Becker. Bundesweit gilt zudem eine Beschäftigungspflicht von Menschen mit Behinderung von 5 Prozent.

Dennoch sieht die Einstellungspraxis in NRW häufig anders aus: Nur Unternehmen der öffentlichen Hand erreichen eine Quote von 6,6 Prozent, drei Viertel der rund 28 000 privaten halten sich gerade einmal an die gesetzlich vorgegebenen 5 Prozent. Über 7000 zahlen aber lieber eine Ausgleichsabgabe von bis zu 250 Euro im Monat, weil sie keinen Menschen mit Behinderung beschäftigen wollen. Dagegen erfüllt nur etwa jeder zehnte öffentliche Arbeitgeber die Quote nicht.

„Vor allem mittlere und kleinere Betriebe haben Vorbehalte“, sagt der Bundesbeauftragte für Menschen mit Behinderung, Hubert Hüppe: Beim Personalmanagement gelten sie häufig als eingeschränkt produktiv, häufiger krank, schwer kündbar, „aber es gibt auch Hemmschwellen in der Belegschaft im Umgang mit schwerbehinderten Menschen“, führt Hüppe an: „Wir sind eine Gesellschaft, die stets die Defizite hervorhebt.“

Dass es auch anders gehen kann, zeigt die Geschichte von Sebastian Kunkel. Als dem 27-Jährige unerwartet HSP (hereditäre spastische Paraplegie) diagnostiziert wurde, bangte er wegen seiner Lähmungserscheinungen und spastischen Krämpfe um seine Ausbildung: „Ich habe mich an den Behindertenbeauftragten der EVO gewandt.“ Die Sorge war unberechtigt, Kunkel arbeitet weiter im Kundencenter, verkauft dort Strom, ist „eines der Gesichter des Unternehmens“, sagt er.

In einem anderen Fall gestaltete man den Arbeitsplatz mit einem elektrischen Tisch und Stehhilfen nach den Bedürfnissen einer Kollegin um, die durch einen Unfall schwerbehindert wurde. „Wir haben das Kundencenter aber nicht nur für unsere Mitarbeiter barrierefrei umgebaut“, erläutert EVO-Chef Gieske. Sondern auch für Kunden. Schwieriger sei die Anpassung des älteren Verwaltungsgebäudes von der Rampe bis zur Tür und Toilette gewesen. „Es war uns aber wichtig“, argumentiert Gieske, „weil die Qualität einer Belegschaft entscheidend ist, für die Durchsetzung auf dem Markt. Menschen mit Behinderung sind häufig motivierter und loyal.“

Bei der Bundesagentur für Arbeit hofft man, dass solche Beispiele Schule machen werden. Apropos: Bei den Schulen sieht Raimund Becker Reformbedarf: „Wir selektieren zu früh auf der Bildungsebene.“ Die Sonderschulen hätten in den letzten Jahren 50 % mehr Schüler bekommen. Wer aber die Förderschule besucht, dann etwa die Behindertenwerkstatt, baue Barrieren auf: Ihnen fehle dann im Vergleich zu den „normalen“ Azubis die Erfahrung in einem Betrieb auf dem ersten Arbeitsmarkt.