Mülheim. .

Hobbymäßig holt Bärbel Essers Verstorbene aus der Vergessenheit zurück. Immer dann, wenn sie einen neuen Grabstein entdeckt und sich auf die Suche nach der Geschichte dahinter begibt. Der Altstadtfriedhof ist ihre Werkstatt, dort arbeitet die Familienforscherin die Historie der Begrabenen auf, erkundschaftet, ermittelt und erfasst Daten. Denn auf dem ältesten Friedhof der Stadt ruhen Tagelöhner neben Industriellen – ein Querschnitt der Mülheimer Gesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts. Nun erzählt die Hobby-Historikerin die Geschichte zweier verstorbener Persönlichkeiten der Stadtgeschichte.

Es scheint, als sei der Altstadtfriedhof selbst begraben. Blatt für Blatt rieselt von den Bäumen zu Boden und bedeckt Gräber und Wege unter einer gelben Laubschicht. Bärbel Essers trifft man zu jeder Jahreszeit hier an, der Friedhof ist ihr Hobby. Besser gesagt, die Verstorbenen und ihre Familiengeschichten. Es geht vorbei an alten Bekannten. „Dort drüben liegt ein Konditor, der da war Metzger, der hier Augenarzt.“ Bärbel Essers deutet auf Marmorplatten, auf denen nur noch Fragmente eines Namens zu erkennen sind. „Und gleich neben dem Bürgermeister liegt meine Urgroßmutter“, lacht die Bilanzbuchhalterin, die sich seit 15 Jahren in ihrer Freizeit der Ahnenforschung widmet. Erst vor kurzem hat sie das Werk „Volkszählung 1861“ herausgegeben, in dem sie nicht nur Daten sammelt, sondern sich auf die Spuren Mülheimer Familien begibt.

Eine solche Familie mit spannender Historie liegt gegenüber der Trauerhalle unter der Erde: Familie Koch-Hollenberg war alteingesessene Mülheimer Gastwirt-Familie. „Die Wirtin Henriette Meisenkothen liegt hier mit ihrem ersten Mann Heinrich Hollenberg und dem zweiten Ehemann Louis Koch sowie deren gemeinsamer Tochter“, erzählt Bärbel Essers. Mit ihrem ersten Mann kaufte die Wirtin 1874 die Gastwirtschaft Jägerhof an der Bachstraße. Nachdem Heinrich Hollenberg mit 37 Jahren 1879 nach längerem Leiden entschlief, übernahm seine Witwe die Mülheimer Traditions-Gaststätte und führte diese weiter. „Den Jägerhof gab es bis 2007“, weiß Bärbel Essers. Heute würde der Jägerhof der Koch-Hollenbergs wohl mitten auf der Leineweberstraße stehen. Denn damals war die Straße noch anders bebaut: „Vor dem Jägerhof trafen die Bachstraße, die Kurzestraße und der Löhberg zusammen und bildeten einen kleinen Platz, auf dem das Kriegerdenkmal aufgestellt war“, weiß Bärbel Essers. Später, 1954, wurde der Jägerhof neu eröffnet, allerdings 15 Meter zurückversetzt.

Ein Stück weiter oben liegt eine weitere Mülheimer Persönlichkeit begraben, dort hat Familie Gothot ihre letzte Ruhestätte. Ein Obelisk markiert das Grab des Industriellen Ferdinand Gothot, der 1926 verstarb und sich das Feld mit Ehefrau Emma und seiner Mutter Gertrud teilt. Der Fabrikant betrieb die Dampf-Kaffee-Brennerei und „ist der Erfinder der ersten Kaffeeröstmaschine“, verrät Bärbel Essers. „1894 meldete er das Patent dafür an.“ Die Firma existiere unter demselben Namen heute noch, jedoch stelle sie die Röstmaschinen nicht mehr in Mülheim her, sondern in Emmerich. „Auf deren Basis wird heute noch produziert und weltweit vertrieben.“ Und: „Die Firma begann in der Auerstraße und wurde später zum Hingberg verlegt.“ Die Mülheimer Zeitung, eine der wichtigsten Recherche-Quellen, beschreibt den Unternehmer kurz nach seinem Tod 1926 als „kerndeutschen Mann, gerade, anspruchslos und arbeitsfreudig bis zur letzten Stunde.“ Weiter lobt der Artikel: „Er ist der Erfinder der bekannten Gothotschen Patent-Schnellröst-Kaffeemaschinen, die Weltruhm genießen.“ Gothot war es auch, der den Mülheimer Turnerbund mitgründete und den Vorsitz des Haus- und Grundbesitzerstandes führte. Ein bekannter Mann der Stadt, den heute kaum noch jemand kennt.

Das sei das Spannende an ihrem Hobby: „Wenn sich Geschichten nach und nach verdichten“, findet Bärbel Essers. Denn die Verstorbenen haben auch über 100 Jahre nach ihrem Tod noch viel zu erzählen.