Die Kostüme sind in den Säcken. Übrigens brauchen wir sie gar nicht“, lässt Luigi Pirandello (1867-1936), der in seinen Stücken immer wieder das Theater und die Welt des Scheins thematisierte und sich nicht an die damaligen Konventionen hielt, einen der Schauspieler sagen. „Und das Bühnenbild? Da haben wir noch immer eine Lösung gefunden. Rollen legen wir zusammen, ich spiele Männer gerade so gut wie Frauen. Kurzum, wir werden mit allem fertig. Was wir nicht spielen können, das wird gelesen.“
Das klingt fast wie eine Vorgabe, an die sich Roberto Ciulli bei seiner Inszenierung des ersten von zwei Pirandello-Abenden unter dem Titel Kaos (Heimat) gehalten hat. Es ist schon ein Verdienst, dass das Theater an der Ruhr den früher beliebten, aber inzwischen nur noch selten gespielten Literaturnobelpreisträger von 1934 auf die Bühne bringt. Und die Passage endet mit: „Das Stück ist einfach so schön, dass kein Mensch darauf achtet, ob Schauspieler oder Requisiten fehlen.“ Schön wäre es ja. Aber Ciulli sah davon ab, einen der Klassiker des Sizilianers zu inszenieren und dann, wie er es schon so oft getan hat, mit anderen Texten zu ergänzen, sondern entschied für eine Collage, ein Destillat von einem Dutzend Theaterstücken und ebenso vielen anderen Texten. Zu komplex sei die Welt des Theater-Avantgardisten, der so überzeugt von der Kraft des Scheins war.
Das Ergebnis kann aber nicht ganz überzeugen. Sechs Bilder, die nicht miteinander verknüpft sind, werden präsentiert. Dabei setzt er abwechselnd ganz radikal auf die ursprünglichen Mittel des Theaters: Körper und Sprache. Wenn er die Schauspieler sprechen lässt, sitzen sie auf Stühlen aufgereiht, blicken direkt ins Publikum und agieren auch nicht miteinander. Die Sätze sind dagegen von bemerkenswerter Güte und oft von der Qualität eines Aphorismus, was Lust auf mehr macht. Doch auf diese Weise rezitiert, wirken sie zuweilen wie Nachrichten aus der Lehranstalt.
Ciulli setzt bewusst auf äußerste Kargheit und Starre. Gralf-Edzard Habben hat einen total schwarzen Raum geschaffen, der für jede Vorstellung offen ist. Auf Requisiten wird weitgehend verzichtet, Musik nur sparsam eingesetzt, hin und wieder blitzt und donnert es. Lebendig sollen Texte und Bilder in der Fantasie der Zuschauer werden. Aber bei Texten ist das so spannend wie eine Buchlektüre.
Das Buch und seine Faszination ist das Thema des ersten Bildes, mit dem Simone Thoma einen schauspielerischen Glanzpunkt setzt. Schüchtern sitzt sie im weißen Rüschenkleid auf einem Stuhl, blickt interessiert auf ein Buch am Boden. Neugierig will sie danach greifen, zuckt mit der Hand aber wieder zurück. Schließlich ist die Verlockung zu groß, sie greift zu, Ehrfurcht wandelt sich in Lust und sie blättert die Seiten mit der Zunge um. Dann schlägt die Leidenschaft um in Wut und sie zerknüllt eine Seite. Irgendwann liegt sie mit dem Buch auf dem Boden, schiebt es im Scheinwerferkegel dem Licht der Erkenntnis entgegen, zieht wie eine Schlange ihren Unterleib nach. Und bei ihren gelenkigen Bewegungen wirkt es wie ein Paarungstanz.
Die Maskerade der Menschen ist Pirandellos Hauptthema. Was ist dafür ein besseres Sinnbild als der Laufsteg. So stolziert Albert Bork mit ausladenem Hüftschwung an die Rampe und schlägt mit einem Ruck die linke Seite seiner Lederjacke zurück, um die Schulter frei zu legen. Lasziv lässt Klaus Herzog sein Sakko in die Armbeugen fallen und Rupert Seidel zieht es ganz aus und fixiert mit kühlem Blick das Publikum.
Mit dem letzten Satz schleicht sich auf das Stichwort ein imaginärer Hund in die Aufführung. Er geht wohl von Stuhl zu Stuhl, wird hier getätschelt, stößt dort auf Ablehnung, ein Stöckchen fliegt, wird apportiert, und plötzlich beginnt Volker Roos zu knurren an und dann wird die Bühne von einer Horde kläffender Hunde bevölkert, die sich beschnuppern und miteinander rivalisieren. Die animalischen Kräfte sind bei Pirandello neben der Maskerade ein weiteres zentrales Thema. Das Wilde wird aber so sehr gebändigt, dass die Hunde, dirigiert mit dem Stöckchen von Klaus Herzog, passend wie ein gemischter Chor bellen.