Das Spiel mit den Superlativen hat Heinz Schmitz seit geraumer Zeit eingestellt. Deutschland-Premiere ließe sich sagen, mehr Weltrangliste war nie, ließe sich sagen, mehr Ex- und amtierende Welt-, Europa- und Deutsche Meister denn je, ließe sich anfügen. Für den 80-jährigen Vorsitzendes des SV Mülheim-Nord misst sich der Erfolg des kommenden Wochenendes dennoch in einer ganz anderen Kennzahl: „Wenn wir so viele Menschen wie noch nie für unser Spiel erwärmen könnten, das wäre fantastisch“, sagt Schmitz. Das Spiel ist Schach. Die Zahl ist 1000.
Es wäre eine Größenordnung, wie sie Schachsport in Deutschland bislang kaum und in der Schach-Bundesliga nie erzielt hat; jene Liga, die sich rühmt, die stärkste der Welt zu sein und doch mitunter vor weniger Zuschauern spielt als der FC Bayern Mannschaftsbetreuer hat. Man muss nicht jammern, Heinz Schmitz jedenfalls tut es nicht. Partien, die fast einen Arbeitstag dauern, zähe Minuten, in denen nichts passiert, und Feinheiten, die sich den meisten der 20 Millionen, die in Deutschland Schach spielen, nicht erschließen: „Das ist schwer vermarktbar“, sagt Schmitz.
Er sieht sein Spiel ohnehin in der „Sportfalle“. Starke Leistungen brauchen starke Spieler, starke Spieler kosten Geld, Geld braucht Sponsoren, Sponsoren suchen Aufmerksamkeit, finden sie oft nicht – und plötzlich vollzieht sich die Entwicklung in umgekehrter Richtung. „Dieser Weg könnte eine Sackgasse sein“, sagt der Mann, der da gerade die größte Schachveranstaltung der letzten Jahre organisiert. Ein Widerspruch? Nicht unbedingt. „Von Mülheim kann ein Zeichen ausgehen“, sagt Schmitz. Er hofft es.
Dafür hat sich der 180 Mitglieder zählende Verein ins Zeug gelegt. Zusammen mit der vom Deutschen Schachbund abgetrennten Schachbundesliga wurde die RWE-Sporthalle angemietet. Um 16 Bundesligateams von München bis Hamburg mit je acht Spielern unterzubringen, war es der einzige Ort. 128 Spieler, 64 Begegnungen pro Tag, das alles mal drei; das bedeutet: 64 elektronische Bretter, die jeden Zug live übertragen (www.schachbundesliga.de), das bedeutet 64 Tische, 128 Stühle, Räume für Live-Kommentierungen, ein Pressecenter, Catering für drei Tage, Absperrgitter für die Ruhe der Spieler, Namens- und Laufschilder, „tausend Kleinigkeiten“, sagt Schmitz.
Das ist auch der Grund, warum das Spektakel nach Mülheim vergeben wurde. Bereits vor fünf Jahren entstand die Idee, alle Begegnungen und alle Aufmerksamkeit an einem Ort zu lokalisieren. Berlin schien geeignet, immerhin hatten damals noch drei Bundesligisten ihren Sitz in der Hauptstadt. Dann aber passten die Preußen. Die organisatorischen Schwierigkeiten galten als unüberwindbar. „Da haben wir zugeschlagen“, sagt Schmitz. Was Sponsoren und Unterstützung angeht, ist Mülheim ein gesegnetes Pflaster.
RWE hat mitgezogen, die Sparkasse auch, Ministerpräsidentin Hannelore Kraft hat die Schirmherrschaft übernommen, Oberbürgermeisterin Dagmar Mühlenfeld erhält am Wochenende in Abwesenheit die Ehrenmitgliedschaft des Verein, letztlich auch stellvertretend für viele, die mithelfen. Ein bisschen Stolz ist Schmitz auf seine Stadt, wenn er davon erzählt, weil er weiß, dass Wertschätzung für das vielleicht edelste aller Spiele keineswegs selbstverständlich ist.
Dabei könnte sich Mülheim für drei Tage zur Hauptstadt des Schachs erklären. Das Präsidium des Deutschen Schachbundes reist vollständig an, um an geeigneter Stelle einen Kongress über die Zukunft des Spiels als Sport abzuhalten. Es scheint, siehe oben, dringend nötig. Schmitz und der SV Mülheim-Nord haben bereits ihre Spielart des neuen Wegs gefunden. In Vorbereitung ist eine Abteilung im Verein, in der jeder Schach spielen kann – außerhalb jeglichen Mannschaftsbetriebs. „Das wird dann“, sagt Schmitz, „ein bisschen so sein wir früher: Man sitzt zusammen, quatscht miteinander und spielt Schach“. Kommunikation nennt man das heute, früher hieß es schlicht Geselligkeit. Schmitz glaubt an den Erfolg dieses schräg gestrickten Projekts, so wie er davon begeistert war, mit Beate Reese vom Kunstmuseum eine Ausstellung über Schach in der Kunst zusammenzustellen, und in inzwischen 20 Schulen Schulschach anbietet. Schach jenseits von Punkten, Geld und Tabellen: „Das kann das neue Herzstück des Vereins werden“, sagt er.
Für einen Verein, der sich anschickt, einmal mehr oben in der Bundesliga mitzuspielen, ist das ein Widerspruch, der Spannung verspricht.
Das Programm:
Veranstaltungsort von Freitag, 14. Oktober, bis Sonntag, 16. Oktober, ist die RWE-Sporthalle am Südbad. Zum Auftakt der Schach-Bundesligasaison wird am Freitag, ab 16 Uhr, die erste Runde gespielt. Mülheim muss im Derby gegen Katernberg antreten. Die zweite Runde beginnt am Samstag bereits um 14 Uhr. Dann bekommt es Mülheim mit dem Deutschen Meister Baden-Oos zu tun. Die dritte Runde startet am Sonntag um 10 Uhr. Alle Partien werden in live kommentiert und auf Leinwände übertragen.
Das Begleitprogramm ist außerordentlich umfangreich. Für Besucher wird es an jedem Tag kleine Blitzturniere geben, beginnend am Freitag um 17 Uhr. Am Sonntag, ab 11 Uhr, sind an selber Stelle zwei Kämpfe der Jugend-Bundesliga geplant, dabei spielt die Mülheimer Mannschaft gegen Heiden. Gleichzeitig beginnt ein Vergleichs-Wettkampf von U10-Mannschaften: SV Mülheim Nord gegen eine Auswahl Mülheimer Schulen.
Am Samstag tritt zudem eine Legende des Schachs auf. Viktor Kortschnoi, wie Heinz Schmitz 80 Jahre alt, misst sich mit 25 Spielern simultan (15 Uhr). Unvergessen sind seine WM-Kämpfe mit Ex-Weltmeister Anatoli Karpov, der ebenfalls in Mülheim Gast sein wird. Kortschnoi ist der älteste aktive Großmeister und auf den Turnierplätzen dieser Welt immer noch präsent - und höchst gefährlich.
80, das ist überdies die Zahl des Wochenendes: Der SV Mülheim-Nord feiert am Samstag um 11 Uhr mit einem Empfang sein 80-jähriges Bestehen.
Der Eintritt zu allen Veranstaltungen ist frei.