Mülheim. .
Der Aufstand geschieht vor den Augen aller und doch im Geheimen. Mitten in der Stadt stehen sie, die „Tumultanten“, vereint im Kampf gegen die Obrigkeit, mit Pflastersteinen in der Hand und durchdrungen von Tatendrang – und alles, was Passanten sehen, sind 50 Leute, die auf der Schloßstraße Wurfbewegungen in Zeitlupe ausführen.
Da bleiben zwei Reaktionen: Kichern oder Kopfschütteln. „Wessen Stadt ist die Stadt?“ fragte die Gruppe „Ligna“ frei nach Brecht und lud zum Radioballett durch „Schlimm-City“.
Es ist ein Spiel mit Wahrnehmung – der eigenen, der der anderen, der der Umgebung. Denn Zuschauer gibt es nicht, nur Zuhörer, die machen, was ihnen ins Ohr geflüstert wird. In der Leeranstalt, die früher mal Kaufhof hieß, geht es los. Dort bekommt jeder einen Radioempfänger samt Kopfhörer, über die Sprecher den Plot erzählen und die Regieanweisungen durchgeben. „Geht durch den Raum“, wird da etwa gefordert, oder „Schaut einen anderen unauffällig aus dem Augenwinkel an.“ In dem leeren Verkaufsraum, der furchtbar vertraut und stillgelegt doch seltsam fremd wirkt, wird die Grundlage für das Kommende gelegt: „Ich kann jeden leeren Raum nehmen und ihn zur Bühne werden lassen“, verkündet der Sprecher im Kopfhörer und dass jeder zum Schauspieler werden kann, wenn er beobachtet wird und jeder zum Zuschauer, wenn er nur hinsieht.
Ein Arbeiteraufstand wird so in der nächsten Stunde durch die Innenstadt ziehen, vom verwaisten Verkaufstempel zum lebendigen Gegenstück, vom Kaufhof zum Forum, der angeblichen Lebensachse der City folgend, die Erfüllung der Wünsche suchen und nicht finden.
Vom Rathaussturm im Jahr 1923 ließ sich das Ligna-Trio inspirieren und lässt bei seiner interaktiven Audioperformance die Menschen ankämpfen gegen Gängelei. Der Umsturz ist das Ziel, die Rückeroberung der Stadt. Vom Kaufhof leiten die Anweisungen aus dem Kopfhörer die Menschen also direkt zum Rathaus hinüber, wo man sich erst an den rauen Putz schmiegt und dann kraftvoll gegen die Mauer trommelt. Die Leute, die gegenüber an der Zentralen Haltestelle stehen, können nur ratlos zugucken. Sie hören die Regieanweisungen nicht; für sie muss es wahrhaft ein seltsames Schauspiel sein.
„Was macht ihr hier?“, werden die Publikums-Akteure da von ihren Zuschauern gefragt, wenn sie die Schloßstraße abriegeln, wenn sie in Dreierreihen marschieren oder mit Handzeichen abstimmen: Waffenladen plündern oder aufgeben? Mit Spaß gehen die „Aufständischen“ an die Sache, folgen den Anweisungen aufs Wort und genießen es, den Pflasterstein in der Hand wiegend, ins Forum zu gehen – vorbei an zwei uniformierten Polizisten. Eine leichte, spaßige Erfahrung ist es, die den komplexen theoretischen Überbau mit Brecht, Fatzer und der Frage nach Stadtraum in den Hintergrund drängt.
Der Umsturz scheitert letztlich, doch der Aufstand an sich ist gelungen. Im Forum bereiten die Akteure (unter dem Blick zweier nervöser Wachmänner) „den Platz ihrer Niederlage“. Dann erklingt lauter Applaus durch die Mall, Beifall für ein intensives Spiel.