Karl Schiller wird Wirtschafts- und Finanzminister, Willy Brandt erhält den Friedensnobelpreis, die Sowjetunion startet Saljut 1, die Schweiz führt das Wahlrecht für Frauen ein – und in Speldorf an der Hofackerstraße sitzen Bürger zusammen und schreiben am 22. September einen Brief an den Oberstadtdirektor, an die Gewerbeaufsicht, an den Oberbürgermeister, an den Obermedizinaldirektor. „Beschwerde über Lärmbelästigung und Luftverschmutzung“ titeln sie ihr Schreiben. Heute, 40 Jahre danach, und eine gute Generation später, sitzt man wieder zusammen. „Wir könnten den gleichen Brief heute erneut losschicken“, sagt Horst Buchmüller von der Hofackerstraße.

Das „Jubiläum“ der Beschwerde von einst hat erst in diesen Tagen wieder neuen Zündstoff erhalten. Die jüngsten Auswertungen von Metallen im Staubniederschlag sind bei Blei, Nickel, Arsen, Cadmium alle erhöht. Wie immer. Gemessen wird in direkter Nähe der Schrottverarbeitung an der Weseler Straße, wo die Firma Paul Jost Woche für Woche große Mengen an Schrott umlädt, zerkleinert, sortiert. Das macht Krach, das lässt die Erde erschüttern. Damals wie heute, wo die Anwohner längst über Risse in Wänden klagen.

„Der stetig ansteigende Umfang des Lärms und der Erschütterungen beginnt um 6.45 Uhr in der Früh und endet abends um 18 Uhr“, schrieben sie 1971, berichten von Schlafproblemen, von schlechter Luft, von der Angst vor gesundheitlichen Schädigungen. Sie bitten die Stadt, die Missstände abzustellen.

Geändert habe sich nichts, sagt Buchmüller enttäuscht. Die Sorgen wuchsen, auch um die Kinder, die mit den Belastungen groß wurden. Die Angst vor krebserregenden Substanzen in der Luft blieb – bis heute. Am liebsten hätten es die Bewohner im Umkreis gesehen, wenn die gesamte Schrottverwertung verlagert worden wäre. Die Firma Jost hatte sich stets um einen anderen Standort bemüht, gefunden wurde bis heute keiner.

Aus den Anwohnern wurden Spezialisten für Luft, Lärm und für den Kampf gegen Behörden. Nie, so Anwohner W. Wenzek, hätte man sich träumen lassen, dass eine solche Ohnmacht der Behörden bestehe. Wenzek ist der Rechner unter den Anwohnern. Weil Nanogramm und Prozente manchmal die Dramatik nicht wiedergeben, hat er als Vergleich mal die Geschwindigkeit aufgeführt. Die Luftbelastungen seien vergleichsweise so hoch, als würde ein Auto die Weseler Straße mit mehreren hundert Stundenkilometern entlang rasen – und nichts passiere. Hält die aktuelle Belastung von Metallstäuben an, würden die zulässigen Grenzwerte in diesem Jahr an 110, im nächsten an 162 Tagen überschritten“, so Wenzek.

Die Aktenordner mit all dem Schriftverkehr zwischen ihnen und den Behörden füllten Regale, sagt Buchmüller. Wie viel kommt noch?

Die Hoffnung liegt aktuell bei der Bezirksregierung, wo man seit Jahren das Problem kennt und in diesen Tagen einen Vertrag ausgearbeitet hat, der von den Schrottbetrieben mit unterschrieben werden soll. „Gefährdungsabwehr und Gesundheitsschutz“ für die Menschen steht als Ziel obenan. Wie der Vorsitzende des Umweltausschusses, Hubert Niehoff (Grüne), gestern gegenüber der WAZ erklärte, habe die Bezirksregierung angekündigt, dass der Vertrag kurz vor der Unterzeichnung stehe. Näheres soll in Kürze öffentlich mitgeteilt werden. Für Niehoff, der sich mehrfach eingeschaltet hat, steht fest: „Die Gefährdung der Menschen muss endlich ein Ende haben.“

Von einem Autatmen sind die Anwohner jedoch weit entfernt. Sollten die großen Falltürme stillgelegt werden, wäre das ein erster Erfolg, der aber, so Buchmüller, zunichte gemacht würde, wenn statt dessen die Betriebszeit der Schrottscheren ausgeweitet würde. Davor haben sie Angst, weil jene bedrohlichen Werte eben im direkten Umfeld der Schere gemessen wurden.