Drei brasilianische Austauschschüler berichten von ihren Erfahrungen. Deutsche Ordentlichkeit gewöhnungsbedürftig.
Neun Monate lang hatten drei brasilianische Austauschschüler Gelegenheit, ihr Vorurteil über das „kalte Deutschland” in Essen und Mülheim zu überprüfen. Heute sagen Vinicius Gomes (18), Leonardo Pisani (18) und Marina Bertolloto (17): „Ihr seid netter, als wir dachten. Aber es ist schon ganz schön kalt bei euch.”
Die Gastmutter hatte vorgewarnt. Zum Interview würden die drei bestimmt zu spät kommen: „Es sind halt Brasilianer.” Die Verspätung hielt sich in Grenzen (20 Minuten), aber an der deutschen Ordentlichkeit hat sich nicht nur Leonardo schwer abgearbeitet. „Am Anfang war's ganz schwer. Diese Pünktlichkeit, diese Ordentlichkeit!” Und Marina fügt hinzu: „Wenn wir uns in Brasilien verabreden, kommen wir halt irgendwann.”
Aber die Ordnung hat auch ihre Vorteile. Alle drei Schüler schwärmen in hohen Tönen vom Nahverkehr. Marina nennt ihn sogar „perfekt”, und Vinicius lobt auch die Sicherheit in den Straßen der Stadt: „Ich komme aus der Gegend von Sao Paulo. Da gibt es ganze Stadtgebiete, in die sich im Dunkeln keiner reintraut. Hier habe ich mich nirgendwo und zu keiner Zeit gefährdet gefühlt.”
Vinicius und Marina hatten sich für das Gastland Deutschland beworben, weil sie Urenkel von Deutschen sind. Leonardo hat keine deutschen Wurzeln, wollte aber unbedingt nach Europa („Bloß nicht in die USA, wo die anderen alle hinwollen”). Er hatte zuvor schon in Südamerika Erfahrung mit frostigen Schneewintern gemacht. Vinicius und Marina hatten damit eine eisige Premiere und waren sehr froh, als er endlich vorbei war: „Der Winter war schon krass.”
Wenn der Brasilianer „Deutschland” hört, schießen ihm spontan drei Begriffe durch den Kopf, sagt Vinicius: „Bayern, denn München ist bei uns die bekannteste Stadt Deutschlands. Hitler, denn das Thema Nationalsozialismus spielt in der Schule eine große Rolle. Und: Perfekte Organisation, denn dafür seid ihr ja zu Recht weltberühmt.” Grinst: „Auch wenn wir damit so unsere Anpassungsschwierigkeiten haben.”
Wenn sie nächsten Monat in ihr südamerikanisches Heimatland zurückkehren, will Vinicius sich für ein Wirtschaftsstudium bewerben und hofft, die Auswahltests zu überstehen. Leonardo peilt ein Medizinstudium an. Und Marina fühlt sich durch den Austausch darin bestätigt, „etwas mit Sprachen” zu studieren. Vier davon kann sie jetzt schon.
Und wie ist das nun mit dem Vorurteil über die kalten Deutschen? „Es stimmt ein bisschen”, sagt Marina, „vielleicht auch wegen des Wetters.” Na ja, sagen die Jungs: „Wir Brasilianer sind bestimmt überschwänglicher, wenn wir jemanden kennen lernen. Ihr Deutschen seid da sehr viel reservierter. Aber wenn man sich mit euch einmal gut versteht, dann ist das viel intensiver und hält viel länger als bei uns.”