Die Gästeführerin der MST entwickelte den Stadtrundgang „Stolpersteine“ und verknüpft dabei Lebensgeschichten mit der Stadtgeschichte während der NS-Zeit. Menschen geben Geschichte ein Gesicht.

Die Schlachtfelder der Geschichte erscheinen in Schulbüchern oft fern. Zeitlich längst vergangen, örtlich meist weit weg, wirken Daten und Namen wie abstrakte Fakten, schnöde und leidenschaftslos. Ein Eindruck, den niemand beibehalten kann, der mit MST-Gästeführerin Anne Kebben durch Mülheims Historie wandert.

Treffpunkt ist der Rathausmarkt. Vor dem eingerüsteten Standesamt versammeln sich die Teilnehmer, scharen sich um Anne Kebben, die eine dicke, blaue Mappe in den Händen hält. Die Ergebnisse ihrer Recherchen sind darin zusammengefasst, denn die Gästeführerin hat sich selbst „in die Zeit gekniet“. „Die Zeit“ sind die Jahre von 1933 bis 1945. Das Dritte Reich, wie es in Mülheim aussah, führt Anne Kebben vor – und zeigt zu Beginn ein Foto von jenem Ort, an dem die Gruppe gerade steht. „Aufmarschplatz“ war der Rathausmarkt 1933 und der städtische Bau mit Hakenkreuzen beflaggt. Fremd und doch vertraut kommt die Szene daher – und so wird es den gesamten Rundgang über bleiben.

Das Rathaus ist auch der Schauplatz der ersten Lebensgeschichten, die an diesem Nachmittag den Mittelpunkt des Rundgangs bilden. Von KPD-Mitglied Fritz Terres berichtet die Gästeführerin, der 1945 im Konzentrationslager Sachsenhausen starb und von Stadtbaurat Arthur Brocke, der der NSDAP ein Dorn im Auge war. Verleumdungen und Schikane der NS trieben ihn 1933 in den Selbstmord. Der Schicksale beider Männer wird mit Stolpersteinen gedacht, die vor ihren ehemaligen Wohnhäusern in den Bürgersteig eingelassen sind.

Zu einigen dieser Messingsteine führt dieser Stadtrundgang. Von „einfachen“ Mülheimern, bekannten Persönlichkeiten, von Juden, Christen, Kommunisten erzählt Anne Kebben und zeigt so die vielfältigen Schicksale von Mülheimern auf. Hugo Carsch und Sybilla Haber lernen die Teilnehmer etwa kennen, die wegen ihres jüdischen Glaubens in Auschwitz ermordet wurden. Lehrerin Maria Djuk wird vorgestellt, die von der Mendener Brücke sprang, als sie der Deportationsbefehl erreichte, und Fritz Thyssen, der sich früh von der NSDAP abwendete und dafür in einer Irrenanstalt landete.

Doch auch Menschen, die keinen Stolperstein erhielten, erwähnt Anne Kebben. Da ist der Jude, der nur überlebte, weil er sich in einem Geschirrschrank versteckte – und die Nachbarn ihn nicht denunzierten. Da ist Pfarrer Heinrichsbauer, der immer „vergaß“, die Hakenkreuzflagge am Kirchturm von St. Mariae Geburt zu hissen. Da ist Gestapo-Mann Karl Kolk, der an plötzlichen Hörbeschwerden litt, wenn Pfarrer Barnstein in der Petrikirche in Predigten gegen die Nationalsozialisten wetterte. Dies nicht auszusparen, ist Anne Kebben wichtig: „Ich will nicht nur das Grausame berichten, sondern auch von den Menschen, die geholfen haben. Denn das sind verschiedene Seiten der Zeit.“

Und es gibt in der City viele Schauplätze. Zum Synagogenplatz führt der Rundgang beispielsweise. Der Name erinnert mittlerweile an das Gotteshaus, das bis zur Reichspogromnacht dort stand, wo inzwischen das Medienhaus errichtet wurde. Beim Rundgang zeigt Anne Kebben ein Foto von der brennenden Synagoge und die Gedenkstele in der Stadtbibliothek.

Früher war es als „Judenhaus“ bekannt

Zur Bahnstraße geht es und zum Haus mit der Nummer 44. Ein wunderschöner Altbau ist es heute, früher war es als „Judenhaus“ bekannt. Dort wurden Menschen jüdischen Glaubens einquartiert, bis sie per Zug deportiert wurden – man schätzte die Nähe zum Bahnhof. Kirchenhügel, Friedrichstraße, das Mahnmal im Luisental sind weitere Stopps an den Spuren der Stolpersteine, weitere Wege zum konkreten Zugang zur Geschichte. Und so passt dieser Rundgang perfekt zur Grundidee der Stolpersteine, basiert sie doch auf einem jüdischen Sprichwort: „Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist.“