„Utopie jetzt! – Weiter, immer weiter“. Der Titel des neunten Festivals für Neue Musik Mülheim gibt bereits eine klare Richtung vor. So erklingen bei dem diesjährigen Festival rund um die Petrikirche Werke von Komponisten, die ihrer Zeit voraus waren.

Eben nicht stehen bleiben wollten und eine Art Denkmalpflege betreiben wollten. Interessant dabei, dass eben nicht nur Vertreter der so genannten Neuen Musik auf dem Programm standen, sondern auch Visionäre vergangener Zeiten, darunter Robert Schumann und Johann Sebastian Bach.

Am vergangenen Freitag wurde das Festival eröffnet, nicht mit einem großen Konzert, sondern mit einer kleinen Darbietung im Kunstmuseum in der Alten Post, bei der Schülerinnen und Schüler der Willy-Brandt-Schule ihre Ergebnisse der vorangegangenen Klangwerkstatt präsentierten. Durchaus passend, denkt man an das „immer weiter“ aus dem Titel.

Um 20 Uhr folgte dann aber auch das große Eröffnungskonzert, für das zum dritten Mal der WDR Rundfunkchor Köln gewonnen werden konnte. Das Konzert hatte den Titel „Und so weiter“, der sich auf ein Zitat aus einem Text Karlheinz Stockhausens (1928-2007) bezieht. Das erste Stück im Programm stammte aus dem selben Werk: „Für kommende Zeiten – 17 Texte für intuitive Musik“. Als Partitur stand den Musikern bloß ein Text zur Verfügung, der Anweisungen wie „Alle zusammen“ und „bis verschmolzen“ enthielt. Was die Solisten des Abends aus diesen Zeilen machten, war ein Genuss. Rupert Huber, Leiter des Chores, erklärte in der Einführung vor dem Konzert: „Man muss gelenkig im Hirn sein“ und man muss üben. Es ging um musikalisches Feingefühl ohne festen Halt an harmonischen Strukturen oder Formteilen. Marco Blaauw (Trompete), Jeremias Schwarzer (Flöte), Teodoro Anzellotti (Akkordeon), Isao Nakamura (Schlagwerk) und die Solisten des WDR Rundfunkchores begeisterten mit eben diesem Feingefühl im Zusammenspiel und zum Teil wahnsinnigen Geräuschen.

Das zweite Stück des Abends war Variations IV von John Cage (1912-1992). Auch dieses Werk enthält keine Noten. Entscheidend sind andere Parameter. Orientiert an der Architektur und einem gewissen Zufallsprinzip wurden in und um die Kirche Linien verlegt, auf denen die Musiker wanderten und musizierten. So entstanden ein interessantes Raumgefühl und collagenartige Klänge. Von den einzelnen Solisten, dem Chor und dem Organisten Klaus Lang hörte man Zitate aus klassischen Werken, der Chor sorgte für eine Geräuschkulisse, bei der auch die Vuvuzela nicht fehlte. Aber auch komplette Stücke wurden vorgetragen, so zum Beispiel „Souvenir“ von John Cage. Alles aber inmitten der Klangkulisse anderer Werkzitate. Den Abschluss des Stückes bildete der Psalm 90 von Charles Ives (1874-1954) für Chor, Schlagwerk und Orgel. Passender hätte es Rupert Huber wohl nicht treffen können, da Ives ebenfalls seiner Zeit voraus war und häufig mit Klangcollagen arbeitete.

Die sich interessant überlagernden Klänge, das hervorragende Spiel der Solisten und das räumliche Erlebnis sorgten für einen Konzertabend, der dem Motto würdig wurde und tatsächlich ein Verlangen nach dem „Weiter, immer weiter“ weckte.