Vor 20 Jahren wagte sich ein Krankenhaus mutig auf eine ganz neue Bühne, sorgte mit einer Kultursparte für eine kleine Sensation.
Volkmar Spira scharte 1990 zehn Schauspielwillige um sich und die junge Kantorin Petra Stahringer – auch heute noch dabei – zog alle Register, um das Haus mit Musik zu erfüllen. „In erster Linie ging es darum, Freunde in den Krankenhausbetrieb einziehen zu lassen“, erläutert Nils B. Krog, EKM-Geschäftsführer. Und es ging auch darum, Schwellenängste abzubauen, eine Begegnungsstätte mit positiver Ausstrahlung zu etablieren. Das zukunftsweisende Projekt machte die Runde weit über Mülheim hinaus. 1995 wurde die „Kultur im Ev. Krankenhaus“ von der Unesco ausgezeichnet.
Das Projekt war keine Eintagsfliege, sondern entwickelte sich in 20 Jahren zu einem kreativen Schwarm, der sich heute mit Großer und Kleiner Bühne sowie den Musischen Werkstätten und weiteren Angeboten und Ablegern sehen lassen kann. Mehr als 300 000 Besucher waren seit 1990 zu Gast. Gratis – damals wie heute
Die Aufführungen sind zu einem festen Bestandteil im Kulturkalender der Stadt geworden. Und sie finden sowohl Publikum, als auch Mitstreiter, die sich ehrenamtlich vor und hinter den Kulissen engagieren. Aus einst zehn Schauspielwilligen ist inzwischen ein Ensemble von 40 ausgebildeten Amateurschauspielern geworden. Michael Bohn leitet die Große Bühne des Backstein Theaters heute. Einige Mitarbeiter des Krankenhauses sind im Ensemble, die meisten Spielvernarrten kommen aus Mülheim. Dazu sorgen 25 Freiwillige für die nötige Infrastruktur: Technik, Kulisse, Maske, Kostümfundus und Requisite. Letztere sind das Reich von Renate Wiedemann.
Und wenn die verschachtelten Räumlichkeiten unter der Backsteinschule nicht so hell, trocken und ordentlich aussehen würden, man könnte in Anbetracht der Kostüme glatt eine Zeitreise vom Mittelalter bis ins Hier und Jetzt durchleben. Davon zeugt u.a. der schwere Umhang mit Schmucksteinen und Goldbrokat, der im „Drachenthron“ 1993 für die Rolle des Kaisers von China zum Einsatz kam. Einen Schwung Kostüme hat man seinerzeit zum erschwinglichen Preis von der Deutschen Oper am Rhein erstanden. „Damals ging das noch“, sagt Michael Bohn. Heute ist man eher auf Privatspenden angewiesen. „Aber die Leute geben gerne“, weiß Bohn. Und so verfügt man auch über eine umfangreiche Kollektion von Brautkleidern.
Wohl geordnet nach 20 Programmen hängen die Kostüme an den Kleiderständern.
Jede freie Minute
Renate Wiedemann kennt fast jedes Stöffchen. Schließlich hat die gelernte Schneiderin an jedem Gewand schon mal Hand angelegt. Seit 1991 arbeitet sie im Klinikteam, nutzt während der heißen Planungsphase vor jeder neuen Produktion jede freie Minute für ihren ehrenamtlichen Job. Ihre erste große kostümbildnerische Arbeit, „das war 2000 ,Der Lügner und die Nonne’“, erinnert sich Renate Wiedemann: „Da habe ich alles selbst geschneidert – vom Schleier bis zu den Gewändern für die Nonnen.“ Sie überzeugte nicht nur an der Nähmaschine, sondern auch durch Kreativität und Organisation. Seither ist sie zuständig für den kompletten Fundus – von Nadel und Faden über Änderungs- und Schneiderarbeiten bis zur Verwaltung.
In „Despotische Spitzfindigkeiten“ 2005 musste sie gleich 19 Darsteller in zwei Stücken ausstatten. „Da habe ich Stoff gekauft, alle Schnitte gemacht und alles selbst genäht.“ Nach Hause hat sie die Arbeit mitgenommen, damit alles rechtzeitig fertig wurde. Das passiert auch heute immer noch. Dabei teilt Renate Wiedemann das Motto der Menschen im Ruhrgebiet: „Was nicht passt, wird passend gemacht.“ Und manchmal sind es nur ein paar Handgriffe, um ein Brautkleid mit einem farbigen Spitzenüberwurf in ein historisches Ballkleid zu verwandeln.
Mit den Schauspielern, mit denen sie eng zusammenarbeitet, teilt Wiedemann einen adrenalinträchtigen Unruhezustand: das Lampenfieber. „Ich komme erst wieder runter, wenn der letzte Zwirn genäht ist.“ Und sie zählt auch nicht die Stunden, die sie an der Nähmaschine oder im Fundus verbringt. „Ich bin halt da, wenn ich gebraucht werde.“