Mülheim. .
Seiteneinsteiger aus der Wirtschaft sind an Schulen gefragt. Grund: Die Landespolitik habe den Trend verschlafen. In den 80er und 90er Jahren habe man Lehrer nicht eingestellt, man rechnete Lehramtsstudenten kaum Chancen zu, so die GEW.
Es klingt wie ein Lehrstück in Sachen Lehrermangel in NRW: Nur zwei Bewerber hatten sich bei Behrend Heeren, Schulleiter der Willy-Brandt-Gesamtschule, auf die Stelle für Chemie und Physik gemeldet. Beide waren, obwohl reguläre Lehramtsabsolventen, seiner Ansicht nach ungeeignet. Dann öffnete die Schule die Stelle für sogenannte Seiteneinsteiger. Es bewarben sich 35, fünf kamen in die engere Auswahl.
„Viele Quereinsteiger sind hochqualifiziert“, sagt Heeren: Doktoranden, Pharmareferenten, Diplom-Physiker, Ingenieure. Jahrgang 1954 war der älteste Bewerber. „Sie suchen andere Aufgaben oder einen sicheren Arbeitsplatz, Perspektiven.“ Wichtig ist dem Schulleiter: „Sie müssen ein Gespür haben für Kinder.“
Mireia Campañá-Kuchenbrandt hatte es. Die neue Lehrerin für Chemie und Physik an der Gesamtschule ist dabei gleich doppelte Seiteneinsteigerin: in einen neuen Beruf und in ein neues Land. Denn die gebürtige Spanierin wechselte aus Barcelona an die Ruhr. Anfang August ging sie aus dem alten Unternehmen, Ende August startete bereits die Schule. Ein ernster Schritt für die frühere Abteilungsleiterin eines Pharma-Labors, denn ihre Tochter und ihr Mann – ebenfalls promovierter Chemiker – zogen mit.
Als sie vor Jahren in Essen promovierte, war die Schulkarriere im Kopf noch weit entfernt: „Ich dachte immer: Die Industrie ist meine Zukunft“, sagt die 31-jährige Doktorin, sie war es nicht, fand sie heraus. „Mir gefällt die Arbeit im Team, mit den Schülern, immer etwas Neues zu machen – das ist erfrischend.“ Bammel vor der Klasse hatte sie nicht, „ich war in den ersten zehn Minuten aufgeregt, aber die Schüler waren nett.“ Und es half, dass sie im Studium an der Uni unterrichtete.
In den nächsten 24 Monaten ihrer Ausbildung erwartet sie aber auch eine hohe Belastung. Denn Seiteneinsteiger lernen im Beruf, was sie eigentlich schon können müssten: unterrichten, Reihen planen, erziehen. 18 Stunden steht Campañá-Kuchenbrandt vor der Klasse, sieben verbringt sie montags in Seminaren. Dort lernt sie, was ein Lehrer können sollte: „Authentisch sein, zwischen Schülern differenzieren, mit Eltern kommunizieren.“ Danach geht’s in die Fachdidaktik. Dazu kommen Vor- und Nachbereitung des Unterrichts.. „Damit komme ich klar“, ist die Neue überzeugt. „Mein erster Job war auch mit Stress verbunden: Termine, Kundenwünsche, lange Arbeitstage.“
Für die Schulen sind Seiteneinsteiger eine zwiespältige Lösung für ein eindeutiges Problem: „Wir besetzen eine ganze Stelle, die uns erst einmal nur zu zwei Dritteln zur Verfügung steht“, sagt Schulleiter Heeren. „Sie sind eine glorreiche Erfindung der früheren Landesregierung“, sagt Franz Woestmann, GEW-Vorsitzende des Personalrats Gesamtschule, pointiert: „Der Untertunnelung des Schülerbergs folgt nun die Überbrückung des Lehrertals“. In den 80er und 90er Jahren habe man Lehrer nicht eingestellt, man rechnete Lehramtsstudenten kaum Chancen am Arbeitsmarkt zu.
Die bittere Folge: Immer weniger junge Menschen interessierten sich dafür. Und wer etwa Naturwissenschaften studierte, ging in die Wirtschaft, wo Gehalt und Aufstiegschancen besser waren. Nach Ansicht der GEW habe die Politik eine langfristige Planung verschlafen.