Rockstars haben Fans, Schauspieler – und Gerd Wastrauk. Dabei kennt den Mülheimer in Hollywood kein Mensch, und auch die Musikszene ist bislang nicht auf ihn aufmerksam geworden.
Wenn der 59-Jährige zum Mikrofon greift, klingt das so: „Meine Daaaamen und Herren auf Gleis ... aaaains, der Regionalexpress von Hamm nach Aachen üüüüber Essen, Wattenscheid, Bochum, Dortmund, Kaaaahhh ... men ... zur Weiterfahrt nach ... Min ... den wird voraussichtlich ... zeeeen ... Minuten später eintreffen. Bittevoooorsicht bei der Einfahrt auf Gleis ... aaaains.“ So jedenfalls beschreibt ein Nutzer des Sozialen Netzwerks StudiVZ im Internet das Hörerlebnis auf den Gleisen Eins bis Sechs.
Bei den ersten Worten schauen die Menschen irritiert hoch, wissen nicht, was sie von der eigenwilligen Sprechart halten sollen. Aber schnell breitet sich ein Lächeln über ihren Gesichtern aus. Wildfremde Reisende zwinkern sich zu, Alteingesessene nicken wissend: Wir sind Mülheim. Und er ist einer von uns.
Eine von hier ist auch Imke Grätz. Die 21-Jährige war von den unkonventionellen Ansagen derart hin und weg, dass sie mit einer Freundin kurzerhand eine Fangruppe im Internet-Netzwerk StudiVZ gründete. Der Name ist Programm: „Wir lieben den Bahnhofssprecher in Mülheim an der Ruhr HBF“ heißt sie. „Wir haben halt immer die Ansagen gehört und fanden das einfach toll. Das ist mal was anderes, wir haben uns immer tierisch drüber gefreut. Wenn die Ansagen kommen, sieht man auch, wie sich die Leute am Bahnsteig alle freuen und schmunzeln.“ 118 Mitglieder haben sich der Gruppe seit ihrer Gründung am 1. Januar 2009 angeschlossen. Und das ohne Werbung oder Aktionen. „Es gibt ja noch nicht mal einen Text oder ein Foto.“
Den Sprecher selbst hat die Reaktion seiner Zuhörer anfangs überrascht. „Das ist nicht witzig, das ist nur eine betonte Ansage“, wundert er sich über die Lacher, die er dafür erntet. Sei’s drum, seine Art zu sprechen heitert die Leute auf. „Man sieht das hier auf dem Bahnsteig“, bestätigt er. „Oder da drüben, wenn da die Daumen hoch gehen“, fügt er hinzu und deutet auf die Gleise Drei bis Sechs. Auch wenn seine Stimme überall die Züge ansagt, 50 mal pro Stunde allein planmäßig, er selbst sitzt in einem Servicehaus zwischen den Gleisen Eins und Zwei. „Da kommen ganz viele Leute rein und bedanken sich für die Ansage.“
Was sie so besonders macht, ist eigentlich nicht viel. „Der einzige Wortlaut, wo ich von der Vorschrift abweiche, ist bei einer Gleisänderung. Da sagt die Vorschrift: ,selber Bahnsteig gegenüber’; ich sag’ ,selber Bahnsteig, andere Seite’“ verrät Wastrauk. Bei ihm kommt es nicht auf das Was an, sondern auf das Wie: Mal rattert er die Worte schnell wie ein vorbeirauschender ICE herunter, mal langsam eine Bummelbahn. Hier dehnt er einen Vokal, bis es länger nicht mehr geht, dort setzt er eine kunstvolle Pause. Ein rollendes ,R’ gehört auch zu seiner Darbietung. „Ich stell’ mich sogar auf den Bahnsteig, rauch’ mir eine, um dem ,Meister’ zu lauschen“, schreibt ein Fan in der StudiVZ-Gruppe.
Viele Kleinigkeiten machen eben das große Andere aus. „Nach der Ansage kommste ganz anderes gelaunt zur Arbeit“, habe eine Dame mal zu Wastrauk gesagt. Wie schafft er das? „Das muss aus dem Bauch kommen. Ich kann glaub’ ich gar nicht mehr anders ansagen.“
Das rollende ,R’ hat Wastruak übrigens aus seiner Heimat mitgebracht: Er wurde in Litauen geboren, kam erst 1960 nach Deutschland. „Da konnt’ ich kein Wort Deutsch.“ Fünf Jahre später heuerte er als Jungwerker bei der Bahn an. Dort ist er bis heute geblieben. Die Ansagen kamen allerdings erst 2006 hinzu. Vielleicht liegt es gerade am fehlenden Ansagetraining, dass seinen Durchsagen der Mensch dahinter anzuhören ist.
Imke Grätz hört Wastrauks Ansagen inzwischen nicht mehr so oft: Sie studiert in Aachen Architektur. Wenn sie mal nach Hause fährt, freut sie sich immer besonders auf den Mülheimer Bahnhof: „Das ist ein Stückchen Heimat. Ich kenn’ keinen anderen Bahnhofssprecher, der solche Ansagen macht. Wenn der Zug zu spät ist, kann man das bei solchen Ansagen auch mal verzeihen.“