Streiten sich die Menschen heute anders als früher?
Manfred Müller: Ja. Als ich damals angefangen habe, war der Großteil der Fälle Strafsachen. Wenn früher eine Kneipenschlägerei war, hat die Polizei den Fall erst gar nicht aufgenommen, sondern gesagt: ab zum Schiedsmann. Das konnte auch mal Mitternacht sein. Aber seit ein paar Jahren geht das erstmal zur Staatsanwaltschaft. Heute sind die meisten Fälle Nachbarschaftsstreitigkeiten.
Worüber zoffen sich die Mülheimer?
Um Grenzabstände der Hecken, Höhen der Hecken, Überfall von Laub. Das sind so die häufigsten Sachen. Oder Verstöße gegen die Hausordnung. Meistens baut sich das jahrelang im Haus auf, bis man gar nicht mehr miteinander spricht.
Streiten Frauen eigentlich anders als Männer?
Kann ich nicht sagen. Als Antragsstellerinnen sind Frauen nicht anders, aber wenn die Ehefrau als Beistand mitkommt, wirkt sie beruhigend in der Diskussion.
Viele Menschen nehmen die Jugend als immer aggressiver wahr. Haben sie recht?
Nein. Da fällt mir ein Fall ein, den ich erst vor Weihnachten hatte. Da ging es gegen einen jungen Angler an der Ruhr. Dem war ein Ruderer, ein älterer Herr, in die Angelschnur reingefahren. Der war dann bei mir als Antragsteller wegen Körperverletzung. Als er hörte, dass so eine Rute 400 Euro kostet, hat er sich bei dem Angler entschuldigt und ihm direkt etwas Geld in die Hand gedrückt, damit er sich eine neue Rute kaufen konnte.
Was ist Ihr wirksamster Trick, um Streithähne zur Raison zu bringen?
Erstmal ganz ruhig hinsetzen und erzählen lassen. Dann sag’ ich natürlich zu dem anderen: ,Jetzt fallen Sie dem mal nicht ins Wort.’ Und dann kommt sehr oft: ,Das hab’ ich ja gar nicht gewusst. Wenn ich das gewusst hätte ...’. Dann kommt es schnell zu einem Vergleich, der dann wie ein Gerichtsurteil 30 Jahre Gültigkeit hat.
Welcher Zank ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?
Da kamen welche, die hatten sich in einer Kneipe geschlagen. Mit beiden war ich per du. Wir haben einen Vergleich aufgesetzt und die sagten, komm’, lass’ uns darauf einen trinken gehen. Nach dem dritten Bier bin ich aber gegangen. Ich dachte: Nicht, dass die sich nachher wieder an die Köppe kriegen. Das sind so kleine Anekdoten, die man nicht vergisst.
Ein Sprichwort sagt: ,Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte.’ Stimmt das?
Wenn der Rechtsanwalt sagt: Machen Sie mal die Bescheinigung fertig, wir gehen zu Gericht — dann freut sich natürlich der Rechtsanwalt. Es gibt welche, bei denen kommt das vor, aber bei anderen nicht. Und ich will hier auch keine Rechtsanwaltsschelte machen.
Darf sich ein Schiedsmann privat auch mal streiten?
Das kommt auch vor. Ich bin im Prinzip ein ruhiger Typ. Ich werd’ vielleicht mal ein bisschen lauter und schimpfe, aber das ist es dann auch.
Nach 25 Jahren als ehrenamtlicher Schiedsmann tritt Manfred Müller ab. Ein Gespräch über Streitkultur.
Schiedsmänner schlichten meist in den eigenen vier Wänden. Ist Ihr Zuhause auch privat eine neutrale Zone?
Ich stänkere nicht, ich stelle nur die Fehler von anderen fest. (schmunzelt) Meine Frau ist auch sehr ruhig. Die muss ich schon ganz schön lange triezen, bis die mal aus sich rausgeht. Aber in unseren 45 Ehejahren haben wir das so gehalten: Das dauert nie länger als bis abends. Da kommt dann doch die Schlichterkultur raus.
Wie oft sehen Streitparteien nach einem Schlichtungsgespräch von einem Gang vor Gericht ab?
Wir haben in Mülheim eine Erfolgsquote von 60 Prozent; in NRW sind es 52 bis 53 Prozent. Wenn Sie zu einer Schiedsperson gehen, ist das Thema nach drei Wochen erledigt. Wenn Sie das vor Gericht durchziehen, dauert das mindestens ein Jahr. Und da gibt es einen Gewinner und einen Verlierer. Beim Schiedsmann gibt es nur Gewinner. Bei uns gehen die meisten als Freunde.
Hat Streit auch was Gutes?
Das ist ja manchmal ein seit Generationen währender Konflikt. Wenn wir den beilegen, haben wir viel erreicht.