Mülheim. .

Jahrzehnte hat sie ihr als Kind erfahrenes Leid für sich behalten. Jetzt wagte eine 61-Jährige den Schritt in die Öffentlichkeit. Sie berichtet über Missbrauch in einem Mülheimer Waisenstift, den sie in den 50er und 60er Jahren erlebt haben will.

Fast vergessen, auf jeden Fall verdrängt – und jetzt schrecklich erinnert, aufgewühlt. Durch die Medienberichterstattung über immer neue Fälle von Kindesmissbrauch gezwungen, sich mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Ermutigt, den Schritt in die Öffentlichkeit zu wagen. Sich der posttraumatischen Belastung zu stellen, mit der sie seit Jahrzehnten zu leben hat. Jutta Schürmann (Name geändert) berichtet über schlimme Kindheitserfahrungen im alten Waisenstift, das einst am Biesenbach 22 in der Altstadt stand.

Heute ist Jutta Schürmann 61. 58 Jahre ist es her, dass sie als Dreijährige in die Obhut des Waisenstifts G.&A. Schmits kam. Ihre psychisch kranke Mutter konnte sie nicht versorgen. Mit Unterbrechung von vielleicht einem Jahr, wo sie noch mal zur Mutter zurückkehrte, lebte Jutta Schürmann bis Anfang der 1960er im Heim am Biesenbach, wo etwa 50 Kinder untergebracht waren.

Den Tränen nahe

Wenn Jutta Schürmann heute an ihre Kindheit zurückdenkt, ist sie den Tränen nahe, die Medienpräsenz von Kindesmissbrauch in Heimen und unter dem Dach der Kirche haben etwas bei ihr hochkommen lassen, das sie verdrängt hatte. Plötzlich fielen ihr Namen der aus Kaiserswerth stammenden Schwestern wieder ein, die nach ihrer Schilderung so viel Leid über deren kleinen Schützlinge gebracht haben sollen.

„Wenn einer was verbrochen hatte, bekamen alle Schläge“, sagt die 61-Jährige, die heute in Bochum lebt und sich an die WAZ gewandt hat, um ihre Erlebnisse zu schildern. Mit dem Kleiderbügel habe es Schläge auf den nackten Po gesetzt, auch auf flache Hände. Dafür hätten sich die Kinder in Reih und Glied aufstellen müssen. Von „ganz schlimmen Ohrfeigen, dass mein Kopf so wehtat“, berichtet die Frau. Eine Erzieherin habe sich bei den regelmäßigen Gruppenbestrafungen besonders hervorgetan – „eine große, hagere Frau mit grauen Haaren, die Haare mit einem Knoten streng nach hinten“, erinnert sich Jutta Schürmann. „Sie trug immer eine weiße Schürze. Es war eine ganz schlimme Person, ganz abartig.“

Auch die Diakonisse, die das Haus geführt habe, habe unter den Kindern massive Ängste verbreitet. Da habe es im Keller ein nur vier Quadratmeter großes Verlies ohne Licht gegeben, in das missliebige Kinder häufig für mehrere Stunden eingesperrt worden seien. „Samstag war Badetag. Wer in der Woche nicht den Regeln entsprochen hatte, wurde dann in der Badewanne unter Wasser gedrückt. Wir anderen mussten zählen, bis die betreffende Person außer Atem war und mit furchtbarem Geschrei wieder auftauchte. Vor Angst machten wir uns in die Hose, woraufhin wieder eine Strafe folgte.“ Klumpige Haferflocken-Suppe. Sie ist Jutta Schürmann als „widerlich, ekelhaft“ in Erinnerung geblieben. Wer erbrochen habe, habe die Suppe trotzdem auslöffeln müssen.

Der unbeschwerten Kindheit beraubt

Erst Ende 1961, als die Schwestern das Haus verlassen haben und es vom Ehepaar Sowek übernommen wurde, habe es sich zum Guten gewendet. Jutta Schürmann fühlt sich einer unbeschwerten, ihrer Kindheit beraubt.

Selbst der ihr nahe stehenden Tante, die sie damals alle 14 Tage besuchen durfte, hat sich Jutta Schürmann nicht anvertraut. „Ich habe es nicht gewagt zu erzählen. Wir Heimkinder hatten einfach einen Makel, wir waren irgendwie zum Stillschweigen verurteilt.“ Der Rektor der Volksschule am Muhrenkamp sei als Vertrauensperson ebenso ausgefallen. Er sei eng verbandelt gewesen mit der Heimleitung, habe das Wirken der Schwestern immer in höchsten Tönen gelobt, ohne wohl zu ahnen, was sich hinter den dunkelroten Backsteinmauern des Heimes abgespielt habe. Sie habe viel geweint – und gebetet: „Lieber Gott, ich möchte später einen ganz lieben Mann haben . . .“

„Ich bin ohne Psychotherapie durchs Leben gekommen“, sagt Jutta Schürmann heute. Ihre Last getragen hat sie dennoch. Panikattacken, Albträume, auch Bindungsängste haben sie ihr Leben lang begleitet. Jetzt, aufgerüttelt durch die Medienberichte, hat sich die 61-Jährige entgegen dem Rat von Anvertrauten entschlossen, ihr Schweigen zu brechen. „Als kleines Mädchen musste ich alleine da durch, jetzt will ich es mit mir ausmachen.“ Es sei Zeit, den Mut aufzubringen, die Geschehnisse von damals öffentlich zu machen.

„Ein komisches Gefühl“

Jüngst kehrte Jutta Schürmann zurück in die Stadt ihrer schweren Kindheit, erkundigte sich im Stadtarchiv nach dem Heim. Sie sagt: „Es ist ein komisches Gefühl, wenn ich hier durch die Stadt gehe.“

„Ich kann nur sagen: Mich erschüttert das, ich kann nur sehr bedauern, was da geschehen ist“ – diese erste Reaktion auf die Schilderungen aus dem ehemaligen Waisenstift am Biesenbach, in dem nach dem Krieg und bis 1968 zeitweise 80 Kinder untergebracht waren, zeigt die Kuratoriumsvorsitzende der G&A Schmits Waisenstiftung, Christa Lehnhoff.

Nicht zu recherchieren

Eine Entschuldigung könne sie zwar heute, gut 50 Jahre danach, nicht aussprechen. Die Zustände im Haus seien wohl nicht mehr zu recherchieren, diesbezügliche Äußerungen zum Waisenhaus seien bislang nicht an die Stiftung herangetragen worden, so Lehnhoff zur WAZ. „Das Mindeste aber ist, dem Menschen entgegenzugehen. Wenn die Dame den Mut und die Kraft hat, zu uns zu kommen, bin ich bereit, mit ihr zu sprechen und ihr unsere heutige Einrichtung zu zeigen.“

Jutta Schürmann hat die Einladung gerne angenommen. Schon am Donnerstag will sie die Verwaltung des Waisenstifts am Lierberg besuchen. Lehnhoff und sie haben bereits länger telefoniert – „ein sehr gutes Gespräch“, sind sich beide einig. „Für mich, für meine Persönlichkeit, ist es ganz, ganz wichtig, damit ich vielleicht irgendwann sagen kann: Das war’s“, sagt Jutta Schürmann. Sie ist froh über die Gesprächsbereitschaft der Einrichtung, „ich hab’ mich sehr angenommen gefühlt“.