Mülheim an der Ruhr. .

Altes neu macht der April, lässt sich in Anlehnung an ein bekanntes, von Hermann Adam von Kamp geschriebenes Volkslied formulieren. Denn in diesem Monat erscheint ein schmales, blau gebundenes Büchlein aus den dunklen Kisten des Stadtarchivs nach 180 Jahren in neuem Licht.

Die Erzählung „Adelaide, das Mädchen aus dem Alpengebirge“ könnte die Vorlage sein für die Enkelin des Alm-Öhi. Stadtarchiv-Leiter Dr. Kai Rawe glaubte „zunächst an einen Aprilscherz“, als Ende März das Schweizer Fernsehen bei ihm anklopfte, um einen Bericht über die deutsche „Ur-Heidi“ zu drehen. Doch die „sensationelle Enthüllung“ hat die heile Alpenwelt massiv erschüttert. Die geistige Adoptivtochter der Eidgenossen — eine Mölmsche? Das sei natürlich „ein Kratzen an einem nationalen Mythos“, vermutet Rawe.

Seit 1880 hüpft die Waise durch die Schweizer Berg- und Buchlandschaft, ins Leben gerufen durch die Schriftstellerin Johanna Spyri. Aber „die Frage des ‘Wer hat’s erfunden?’ kann man jetzt mal ein bisschen anders stellen“, kommentiert Rawe süffisant. Eine ganz neue Antwort darauf gibt der Frankfurter Germanist Peter Büttner. Während einer Ausstellung fiel ihm eine Erstausgabe des von Kampschen Werkes in die Hände. Je länger er las, desto mehr Ähnlichkeiten zwischen den beiden Textten fielen ihm auf. Inzwischen hat er sie systematisch erfasst; Ende März rundete er seine Forschung im Mülheimer Stadtarchiv ab.

Das Ergebnis: Bereits 50 Jahre vor Spyris Heidi beschrieb van Kamp auf 30 Seiten, was Millionen von Menschen aus Büchern, Filmen, Comics und sogar einem Musical kennen: Auch seine Adelaide lebt als Waise bei ihrem Großvater auf der Alp, auch sie muss die idyllischen Berge gegen Frankfurt tauschen. Nicht nur der Inhalt, auch die Sprache der Erzählung spricht Bände. Laut Büttner gebe es „Parallelen bis hinein in Satzstruktur und Wortwahl“, wie Rawe zusammenfasst.

Von Kamp lebte und arbeitete 53 Jahre lang als Lehrer in Mülheim. „Er hat für seine Schüler regelmäßig kleine Geschichten geschrieben“, weiß der Leiter des Stadtarchivs, wo von Kamps Nachlass — in Schulheften notierte Manuskripte, Briefe und Rechnungen — verwahrt wird. Als Unterhaltung für seine Schützlinge dürfte auch Adelaide entstanden sein.

Von Adelaide über Adelheid zu Heidi war der Weg trotz der dazwischen liegenden Alpen nicht weit. Ein Plagiat sei das Werk Spyris deswegen aber nicht, rückt Rawe das Verhältnis zurecht: „Dafür sind die Parallelen zu gering.“ Darüberhinaus stellt er klar: „Ich erhebe keinen Anspruch darauf, dass Heidi jetzt eine Mölmsche sein soll. Sie ist eher eine Art Weltbürgerin.“ Eine 50 Jahre ältere Erzählung als Quelle der Inspiration für ihren eigenen Roman zu nutzen, „schmälert überhaupt nicht die Leistung Spyris“.

Büttners Entdeckung lenkt den Blick auf den laut Rawe „ersten Heimatforscher Mülheims“ von Kamp, der heute „fast vergessen“ ist. Nur ein Gedenkstein im Witthausbusch erinnert noch an ihn. Doch auch als geistiger Vater Heidis werde er wohl keine Renaissance erfahren, vermutet Rawe. Vielmehr werde es — besonders aus der Schweiz — „bestimmt Bemühungen geben, diese These zu widerlegen“. Die Mölmschen hingegen können sich freuen, dass Heidi nun irgendwie auch eine der ihren ist.