Steil ragt die Wand empor, und das auch noch schräg. So zerrt das eigene Körpergewicht umso mehr an den Fingern, die sich um nur zentimeterhohe Vorsprünge krallen. Zug um Zug kämpft sich der Kletterer nach oben. Plötzlich passiert es.
Die Hände packen nicht mehr, die Füße rutschen ab, er stürzt.
Keinen Atemzug später, aber einen guten Meter tiefer hängt er sicher im Seil: Sein Sicherungspartner hat aufgepasst. Lebenretten ist beim Deutschen Alpenverein (DAV) Routine – wer Berge oder Kletterwände heraufkraxelt, kann jederzeit fallen. „Der nächste Schritt zählt, denn es könnte der letzte sein“, beschreibt Michael Cremer, 1. Vorsitzender der Sektion Mülheim, die Situation. Wer sichert, trägt enorme Verantwortung: Er hat das Leben des Sportlers buchstäblich in der Hand, die das Seil hält.
Das war auch vor 100 Jahren schon so, als die Sektion Mülheim gegründet wurde. Allerdings brauchten die Kletterer Anfang des 20. Jahrhunderts noch viel mehr Vertrauen, um sich fallen zu lassen: Nagelschuhe und Hanfseile statt moderner High-Tech-Ausrüstung machten jeden senkrechten Ausflug in die Berge zu einer Gratwanderung zwischen Leben und Tod. „Da hat sich ‘ne Handvoll Expeditionisten versammelt“, sagt Cremer über die elf Abenteurer, die am 19. Dezember 1910 die Bildung der Sektion Mülheim (Ruhr) beantragten. „Was die für Touren in die Alpen gemacht haben, das würde heute dem Himalaya entsprechen.“
Wie kommen alpine Kraxler eigentlich dazu, im flachen Mülheim eine Sektion des DAV aufzumachen? „Die haben ihre Passionen mitgebracht, unter anderem den Bergsport“, mutmaßt Cremer. Inzwischen müssen Kletterbegeisterte nicht mehr hunderte von Kilometern in die nächsten Berge fahren – ein paar Minuten mit dem Auto zur nächsten Kletterhalle reichen. Künstliche Kletterwände schießen in den letzten Jahren wie Pilze aus dem Boden; gerade entsteht an der Duisburger Straße eine der größten Anlagen Deutschlands. Galten künstliche Routen früher als Flachlandrattendomäne, ist das Sportklettern heute anerkannt und „auf dem besten Weg, olympisch zu werden“, wie Cremer ankündigt.
Das Hallenklettern ist zwar ungefährlicher als das Herumkraxeln in nicht gut abgesicherten Felsen; risikofrei ist es nicht. Auch hier kann ein Fehler lebenslänglich Rollstuhl oder den Tod bedeuten. Da ist Vertrauen gut, aber Kontrolle besser: Schon die Jüngsten gehen in den Jugendgruppen des DAV auf Nummer sicher. „Hey! Erst mal Partnercheck!“, rüffelt Cremers siebenjährige Tochter Lea den Jungen, der sie gerade die Trainingswand in der Harbecker Halle hoch schicken wollte. Sie hatte zwar überprüft, ob er das Sicherungsgerät richtig benutzt – er den Knoten aber nicht, mit dem sie sich ins Seil eingebunden hatte.
„Kindern liegt das Klettern im Blut“, findet Cremer. „Die haben ein natürliches Kletterbedürfnis, da bremsen die Eltern eher aus.“ Lea bremst nur das sichernde Seil – seit sie drei Jahre alt ist. Ihre blauen Augen leuchten, wenn sie vom Klettern spricht. „Das ist so, als ob man fliegen würde, wenn man da runterkommt“, schwärmt sie. Doch nicht nur den Nachwuchs begeistert der alte, neue Trendsport. Cremer erzählt: „Der älteste Mensch, den ich hier oben in der Wand hatte, war 84.“ Hoch hinaus geht es längst auch im Alter – sogar im flachen Mülheim.