Es war eine mutige Veranstaltung, das interdisziplinäre Gespräch in der Wolfsburg. Über 160 Teilnehmer diskutierten mehr als vier Stunden lang über das Thema „Der sexuelle Missbrauch und die Katholische Kirche“.
Mit der Tagung in der Katholischen Akademie will das Bistum Essen seinen Weg fortsetzen, dem Verschweigen und Vertuschen mit Transparenz zu begegnen. Unter den Teilnehmern der Veranstaltung, die gemeinsam mit dem Ärzte- und Juristenrat im Bistum Essen initiiert worden war, befanden sich auch Priester.
Wie komplex das Thema „Missbrauch“ ist, wurde in den Vorträgen der drei Referenten deutlich. Wie differenziert bei Diagnostik und Therapie vorgegangen werden muss, verdeutlichte der forensische Psychologe Klaus Elsner aus Viersen. „Nicht alle Männer, die pädophil sind, missbrauchen Kinder. Nicht alle Männer, die Kinder missbrauchen, sind pädophil“, betonte er.
Bei manchen Sexualstraftätern hingen die Taten mit Lebenskrisen zusammen, oft seien auch eine problematische Selbstkontrolle oder Beziehungsdefizite ausschlaggebend. Andere Täter gelten etwa aufgrund von Depressionen, Angststörungen oder Alkoholabhängigkeit als psychisch gestört. Sexualstraftäter, so Elsner, hätten in der Regel die notwendigen „Entwicklungsaufgaben im Jugendalter“ nicht bewältigt.
Auch Priester, die Kinder sexuell missbraucht haben, hat der Psychologe bereits begutachtet. In sieben von bislang 18 Fällen war keine klinische Diagnose möglich. Die anderen Diagnosen reichten von Alkoholproblemen über manisch-depressive Erkrankungen und Pädophilie bis hin zu Persönlichkeitsstörungen. „Priester brauchen einen Gesprächsraum, wo sie über ihre Sexualität, Wünsche und Konflikte sprechen können, ohne Angst vor Konsequenzen haben zu müssen“, resümierte Elsner. Er wünscht sich von der Kirche, „dass sie mehr auf die emotionale Gesundheit ihrer Mitarbeiter achtet“.
Dass sexueller Missbrauch für die Opfer eine Bedrohung mit katastrophalem Ausmaß ist, machte die Traumatologin und Chefärztin Dr. Andrea Möllering aus Bielefeld deutlich. Bilder und Alpträume verfolgten die Opfer. Häufig würden sie versuchen, durch Verleugnung das Trauma zu verarbeiten. Vor allem Kinder und Jugendliche neigten dazu, sich selber die Schuld am Missbrauch zuzuschreiben.
Für Möllering ist soziale Unterstützung von größter Bedeutung. Die Kirche müsse den Opfern Therapien ermöglichen. Bei der Frage nach der Aufarbeitung konnte die Traumatologin kein Patentrezept liefern: „Entschuldigung, Entschädigung, Gespräch, Versöhnung? Ich weiß es nicht.“
Der Mainzer Theologie-Professor Philipp Müller vertrat die Ansicht, dass in der Priesterausbildung den Themen „Sexualität“ und „Beziehungsfähigkeit“ ausreichend Platz eingeräumt werden müsse.
In der Diskussion wurden viele Fragen aufgeworfen. Etwa: Sind die Missbrauchsfälle ein systemisches Problem der Kirche? Professor Müller sieht keinen direkten Zusammenhang zwischen Zölibat und Missbrauch. Aber es könne sein, „dass Personen mit einer unreifen Sexualität in dieser Lebensform eine Nische suchen“.
Hinterfragt wurde auch die kirchliche Sexualmoral, die sich nach Ansicht eines Diskussionsteilnehmers der Wirklichkeit verweigere. Gefordert wurde zudem, das Verhältnis kirchlicher Amtsträger zur Macht intensiv zu bedenken. Denn in einem unfreien, undurchsichtigen Klima würden Missbräuche von Macht und körperlicher Missbrauch begünstigt.