Die Leute gucken eher weg, wenn etwas passiert, als die Polizei zu rufen: Eine Tendenz, die ein erfahrener Kripobeamter beobachtet hat

Diese Nachricht hat viele Leser beschäftigt: Zeugen sehen zwei Einbrecher und rufen die Polizei nicht an, weil sie kein „Theater” haben wollten. Jürgen Achterfeld, Chef des Regionalkommissariats und seit 30 Jahren in Mülheim, sprach darüber mit Bettina Kutzner.

Sind die Leute heute gleichgültiger, wenn sie Zeuge einer Straftat werden?

Achterfeld: Grundsätzlich kommt es immer auf den Einzelfall an. Aber generell kann man das bestätigen, ja. Früher wurde die Polizei häufiger angerufen, wenn sich Verdächtiges tat. Schon seit Jahren appellieren wir daher an die Leute. Nehmen Sie mal unsere Aktion „Vorsicht, wachsamer Nachbar”. Die lief ja schon vor Jahren, weil erkennbar wurde, dass so eine Art des Wegsehens zugenommen hat.

Haben Sie ein Beispiel?

Es ist leider so, dass häufiger bewusst weggeguckt und weggegangen wird, wenn man sieht, da spielt sich etwas außerhalb der Norm ab. Nehmen wir mal eine Körperverletzung in den Sommermonaten in der MüGa. Nach Aussage von Geschädigten wurde ein Vorfall von vielen Spaziergängern gesehen. An der Anzahl von Notrufen, die dann eingehen, sieht man aber, dass nur ein oder zwei Zeugen angerufen haben.

Was ist denn der Grund für das große Schweigen?

Gleichgültigkeit ist mit Sicherheit ein wichtiger Faktor. Aber eine Hemmschwelle besteht auch darin, dass man Angst hat, in eine Auseinandersetzung, eine Schlägerei, einen Raubüberfall eingreifen zu müssen und dann selbst zum Opfer zu werden. Die Polizei erwartet nicht, dass der Zeuge sich in Gefahr begibt. Es ist unsere Aufgabe, aktiv vorzugehen. Wir erwarten aber, dass man die Polizei anruft – heute hat doch jeder ein Handy. Und meist ist man ja nicht allein am Ort des Geschehens, es sind andere anzusprechen oder zu aktivieren: Kommen Sie, wir müssen was tun, die Polizei rufen. Davon wird viel zu wenig Gebrauch gemacht.

In Styrum ging es um einen Einbruch...

Die Sache in Styrum ist ja deswegen aufgefallen, weil die Zeugen zu ihrer Nicht-Reaktion gestanden haben. 110 anzurufen, hätte doch völlig genügt. Man hätte dann eine hohe Wahrscheinlichkeit gehabt, die Täter zu fassen – und auch, zukünftige Opfer zu schützen.

Sind die Leute denn bei allen Delikten so gleichgültig?

Es gibt schon Unterschiede: Wenn es um die körperliche Unversehrtheit geht oder um Delikte, die sich gegen Kinder richten, ist die Aufmerksamkeit auch der Zeugen viel größer, als wenn es um Eigentumsdelikte geht. Je spektakulärer eine Tat, desto mehr Reaktionen haben wir aus der Bevölkerung.

Das ist aber doch eine gute Nachricht, oder?

Ja. Aber wir wünschen uns auch mehr Zeugen im Bereich der Massenkriminalität. Davon kann doch schließlich jeder Bürger betroffen werden.

Viele nehmen Eigentumsdelikte vielleicht nicht ernst, weil niemand verletzt wurde?

Bei vielen Opfern von Einbrüchen ist ja der materielle Verlust nicht das Entscheidende, sondern die Angst danach, weil jemand in einen privaten Bereich eingedrungen ist, wo kein Fremder etwas zu suchen hat. Ich hatte schon Fälle, wo die Leute im Urlaub weilten und bei der Rückkehr fanden sie ihre Wohnung verwüstet vor. Diese Menschen konnten nicht mehr in dort leben und sind später umgezogen.