Schriftstellerin Julie Zeh und die Band Slut mit ihrer inszenierten Lesung „Corpus Delicti” im Ringlokschuppen: Sie haben ein Musik-Theater geschaffen, das an Konzeptalben und Art Rock-Theater der 70er und 80er Jahre erinnert.
Vielleicht sind die Dystopien – die Vorstellung einer totalitär geführten Welt – genauso gestorben wie die Utopien. Sie werden als rauschhafte Inszenierung, als „geile” Überwachungsfantasie abgefeiert; in der Wirklichkeit ist die Kontrolle des Privaten – banaler als George Orwell es erdachte – bereits mit der Payback-Karte, mit jedem Gang ins Internet oder mit jedem Handykauf abgegeben. Freiwillig.
Die inszenierte Lesung „Corpus Delicti” im Ringlokschuppen ist so ein Rausch: Schriftstellerin Juli Zeh und die Band Slut haben ein Musik-Theater geschaffen, das an Konzeptalben und Art Rock-Theater der 70er und 80er Jahre erinnert. In Corpus Delicti bleiben sie schon ästhetisch an den 80er Jahren kleben und seinen expressionistischen Bildern aus schwarz-weiß Kontrasten, grober Video-Optik und Kreuzsymbolik. Musikalisch sowieso: Der „Indie”-Sound aus Gitarre und Elektro klingt nach allem möglichen zwischen New Model Army und Cure. Schwülstig übermannen Orgelklänge die Zuhörer, rau krächzt die Stimme von Slut-Gründer und Sänger Christian Neuburger, als gehöre das zum Weltschmerz dazu. Die beruhigende Fahrstuhlmusik gibt es schließlich schon real im videoüberwachten Kaufhaus.
Aber um was geht es? In der Welt der Geschwister Moritz und Mia sind Gesundheits- und biometrischer Reisepass die offensichtlichen Lausch- methoden, bis in den Stuhlgang dringen die Messinstrumente: Der Mensch wird über seinen Körper kontrolliert. Zu seinem Wohle, heißt es. Foucault lässt grüßen. Der philosophische Moritz streitet sich mit Naturwissenschaftlerin Mia über das Leben und die Liebe, bis er eines Tages vom System wegen Mord verhaftet wird. Ein DNA-Test soll ihn überführt haben. Als Mia den Fehler im System aufdeckt, hat sich der unschuldige Bruder bereits umgebracht. Die rebellierende Schwester wird zur Märtyrerin und buchstäblich kalt gestellt – mit staatlich verordnetem Kälteschlaf.
Was ist der freie Mensch, philosophiert Mia, eine flackernde Lampe zwischen Subjektivität und Objektivität. Materie, die sich selbst an-glotzt? Es gibt einige Momente, in denen Corpus Delicti aus dem Rausch tritt und das holzschnittartige Schema verlässt. Dann spricht klar und wütend die Juristin Zeh, die mit Ilija Trojanow den „Angriff auf die Freiheit” und den Sicherheitswahn kritisierte und gegen den biometrischen Reisepass klagte: „Ich entziehe einem Recht das Vertrauen, das seine Erfolge einer vollständigen Kontrolle des Bürgers verdankt. Ich entziehe einem Volk das Vertrauen, das glaubt, totale Durchleuchtung schade nur dem, der etwas zu verbergen hat.” Nach der Party tritt Katerstimmung ein. Endlich.