Mülheim. Sie war noch keine 30, als sie MS bekam. Heute blickt Kristina positiv in die Zukunft. Ein Mülheimer Angebot für Erkrankte zeigt Perspektiven.
Wie lange sie schon unter Multiple Sklerose leide? „Eigentlich schon seit 30 Jahren“, antwortet Beate ganz nüchtern auf die Frage, hinter der sich immense Einschränkungen in ihrem Alltag verbergen. Die Diagnose aber, dass es MS sei, was sie seit Jahren plage, sei erst vor zwei Jahren gestellt worden, erzählt die 65-Jährige. Davor lag eine Odyssee durch verschiedenste Arzt-Praxen. „Jeder sagte etwas anderes“, erzählt die Frau aus Broich.
Dabei habe der Verdacht auf MS immer mal im Raum gestanden - immerhin litt Beate an einer Fuß-Hebe-Schwäche, das Bein sackte immer mal weg. „Ich hatte wohl all die Jahre auch Schübe, aber die gingen ja wieder weg“, schildert die Broicherin ihren Umgang mit den Symptomen. Wirklich untersucht worden sei sie auf die tückische Erkrankung aber nicht. „Letztlich ist es eher durch Zufall rausgekommen.“ Mit der Diagnose lebe sie nun aber besser als zuvor. Nicht nur, weil sie gut mit Medikamenten eingestellt sei, sondern auch, weil sie bei Fragen nach ihren körperlichen Einschränkungen, ihrem gestörten Gang eine klare Antwort geben kann und nicht nur ausweichend sagen muss: „Mit meinem Knie stimmt irgendwas nicht.“
Multiple Sklerose-Erkrankte treffen sich in Mülheim
Die 65-jährige Mülheimerin war eine der Erkrankten, die sich jetzt beim Informationstag „Gemeinsam gegen MS“ im Gesundheitszentrum Lang an der Kölner Straße unterhalb der Saarner Kuppe von Experten auf den neuesten Stand von Forschung und Entwicklung bringen ließen. Im Publikum: vorwiegend Frauen jüngeren und mittleren Alters. Typisch für die chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems: MS betrifft mehr Frauen als Männer, die meisten Neupatientinnen sind zwischen 20 und 40 Jahre alt. Gespannt folgen die Gäste des Informationsnachmittags den Ausführungen der Mülheimer Neurologin Tatiana Keilmann. Die Ärztin legt dar, dass es inzwischen ausgefeilte Medikamente gibt, mit denen sich Patienten individuell einstellen lassen. Denn: „Keiner ist gleich in seiner Erkrankung, man kann sich nicht mit anderen vergleichen.“ Umso wichtiger sei es für Erkrankte, auf ein Netz aus Behandlung und Unterstützung zurückgreifen zu können.
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Das Gesundheitszentrum Lang an der Ecke Kölner Straße/Solinger Straße will ein Knotenpunkt in diesem Netzwerk aus Spezialisten sein, macht Geschäftsführer Christoph Waniek deutlich: „Wir wollen die einzelnen Disziplinen hier verknüpfen und neben den Experten unseres Sanitätshauses wie Orthopädietechnikermeister etwa auch Ärzte sowie Physiotherapeuten einbeziehen.“ Mit der Veranstaltung zu MS haben die Organisatoren offenbar einen Nerv getroffen. Kaum ein Platz ist leer geblieben in dem Raum.
Geflohener aus der Ukraine spricht in Mülheim über seine MS-Erkrankung
Auch ein Mann mit einer großen Orthese am rechten Bein sitzt im Publikum. Er hat sein Bein weit ausgestreckt unter den Stuhl vor ihm. „Stehen geht eigentlich besser, etwa im Bus“, wird Yurii später sagen. Der 38-Jährige stammt aus der Ukraine, ist mit seiner Frau und den beiden kleinen Töchtern, acht und vier Jahre alt, vor dem Krieg in seiner Heimat Kiew geflohen. In Oberhausen hat die Familie ein neues Zuhause gefunden. „Ich habe meine medizinischen Unterlagen zusammengesucht und durfte damit die Grenze überqueren“, berichtet Yurii über seine Flucht. An MS leide er seit 2009. In der Ukraine sei er auch mit Medikamenten eingestellt gewesen, aber zuletzt an zwei Walking-Stöcken als Stütze gegangen, weil das rechte Bein nicht mehr gut mitmacht.
„In Deutschland gibt es neben der Medizin noch mehr Möglichkeiten“, sagt der Ukrainer und deutet auf seine Bein-Orthese, die seinen Gang unterstützt. Dass er sich so wenig wie eben möglich durch seine Krankheit einschränken lassen will, hänge auch eng mit seiner Familie zusammen: „Ich will mit meinen Töchtern spielen können und so gesund wie möglich bleiben, um für meine Familie da zu sein.“ Erst seit einer Woche hat er so ein modernes Hilfsmittel, wie es auch in den Vorträgen beim MS-Infotag vorgestellt wurde. „Bisher konnte ich etwa 700 Meter laufen und musste dann Pause machen“, erzählt Yurii, zieht sein Handy aus der Hosentasche und öffnet stolz die Schrittzähler-App: „Heute habe ich schon 3300 Schritte gemacht, und eine Stunde zu stehen ist auch kein Problem mehr.“
65-Jährige aus Mülheim-Broich litt rund 30 Jahre unentdeckt an MS
Dass ein passendes Hilfsmittel umso wichtiger ist für Menschen mit MS hat auch Beate aus Broich leidvoll erfahren. „Mein voriger Neurologe hat mir über vier Jahre eine feste Orthese verpasst und damit mein Bein lahmgelegt. Das holt man nicht mehr zurück“, sagt die Frau, die sich auf ihren Stock stützt. In der Stadt sei sie mit einem Elektromobil unterwegs, um mobil zu bleiben. Denn eines steht für Beate fest: „Man muss auch selbst wollen und etwas dafür tun, um am Leben teilhaben zu können.“
Sich so wenig einschränken lassen und die Krankheit möglichst lange in Schach halten, ist auch das Ziel von Kristina. Die 30-Jährige ist extra aus Bottrop gekommen, um den MS-Infotag zu besuchen und die Ausführung der Neurologin zu hören. „Für Frau Keilmann lohnt es sich, den Weg auf sich zu nehmen“, sagt die Bottroperin, die auch zur Behandlung zu der Mülheimer Ärztin kommt, wie sie erzählt. Seit rund anderthalb Jahren weiß Kristina, dass sie MS hat.
Mit Ende 20 traten bei ihr Gangstörungen auf, zudem waren ihre Finger weniger sensibel: „Filigrane Tätigkeiten fielen mir schwer, ich konnte mir etwa die Ohrringe nicht mehr zumachen.“ Heute, sagt die junge Frau, die als Krankenschwester arbeitet, gehe es ihr gut. Dank der Medikamente seien ihre Beschwerden zurückgegangen. Nach dem ersten Schock nach der Diagnose, sagt Kristina, habe sie sich ein Motto auferlegt: „Akzeptieren, informieren, weitermachen.“ Mit Sport und Meditation unterstütze sie ihr Wohlbefinden mittlerweile selbst. Sie sei zuversichtlich, in Zukunft gut mit der Krankheit leben zu können dank immer neuer Hilfsmittel und angepasster Medikament wie der Immuntherapie. Die junge Frau lächelt und sagt: „Die Diagnose war für mich nicht das Ende.“
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