Mülheim. Mitten in Mülheim in den Europipe-Hallen entstehen Rohre, die ihresgleichen suchen. Ein Werksbesuch zeigt, wie Bleche zu runden Riesen werden.
Hier stellen sie Gigantisches her, Produkte, die so nur wenige Betriebe auf der Welt liefern können: In den riesigen Hallen zwischen Mannesmannallee, Pilger- und Fritz-Thyssen-Straße werden große Stahlbleche zunächst gebogen und schließlich an einer Längsnaht zusammengeschweißt. Es entstehen Großrohre, die extremen Beanspruchungen standhalten. Das ist das Kerngeschäft der Europipe GmbH, die ihr Alleinstellungsmerkmal damit gefunden hat, in kurzer Zeit riesige Mengen großer Stahlrohre herzustellen.
Laut und stickig ist es in den weitläufigen Fabrikhallen, Maschinen dröhnen, Bleche und Rohe fallen wummernd in ihre nächste Bearbeitungsposition. Am Anfang ist das Blech: Tonnenweise kommt es vom benachbarten Mannesmann-Grobblech-Werk oder aus der Dillinger Hütte. Riesige Maschinen greifen das Material, bereiten es für die Verarbeitung vor, wie von Geisterhand werden die Bleche in das nächste Ungetüm transportiert. Hier wirken immense Kräfte auf die noch gerade Fläche ein, biegen das Blech zunächst zu einem langen U.
Europipe in Mülheim: Rohrnaht wird per Ultraschall und Röntgen kontrolliert
Die kraftstrotzende Presse kann Blechdicken von bis zu 50 Millimetern verarbeiten. Schließlich wird das Blech zum Rohr, indem es zu einem O geformt wird. Bleibt noch die Naht: Damit sie sicher verschlossen ist, wird sie zunächst geheftet und schließlich von innen und von außen verschweißt. Ob die Kanten des Blechs, da wo sie zum Rohr zusammenlaufen, auch wirklich dicht sind, wird per Ultraschall und Röntgen überprüft. Steht noch die mechanische Expansion an: Mit gewaltigem Druck wird das Rohr geweitet und in Form gebracht. Europipe-Geschäftsführer Roger Menneking erklärt: „Die Kunden legen extremen Wert auf die perfekte Rundheit.“
An zahlreichen Stellen im Produktionsprozess setzt Europipe auf Sichtkontrolle – so auch nach dem Schweißen. „Der Mensch hat immer das letzte Wort, nicht die Maschine. Am Ende entscheidet der Mitarbeiter, ob das Rohr rausgeht“, betont der Technik-Chef von Europipe und zeigt auf einen Beschäftigten. Der legt sich rücklings auf ein Brett mit Rollen, das an ein Skateboard erinnert, und fährt damit langsam zur Kontrolle durch das Rohr. Jedes Rohr erhält eine Kennzeichnung, eine Produktionsnummer. „So können wir später, falls es doch mal zu Beanstandungen kommt, immer nachvollziehen, wie das entsprechende Rohr produziert worden ist“, erklärt Falko Schröter, Vertriebsgeschäftsführer der Europipe.
Vieles läuft bei der Rohrproduktion im Mülheimer Europipe-Werk automatisiert
Menschen, Arbeiter sieht der Besucher erst auf den zweiten Blick – zunächst einzelne, am Ende der Produktionsstrecke immer mehr. Rund 160 Leute arbeiten in einer Schicht in der Produktion und in der Instandhaltung. Am Anfang läuft das meiste automatisiert, wohl aber überwacht von den Fachleuten in den Leitständen, die wie Adlerhorste oberhalb der Produktionsstraße hängen und einen guten Überblick liefern.
„Anfang der 90er Jahre habe ich hier die ersten Roboter mit aufgebaut“, erinnert sich Dogan Fidan und lässt den Blick von der Metallbrücke hinab über die automatisierte Produktion schweifen. So lange wie er kennt kaum jemand das Röhrenwerk. Vor 40 Jahren hat er hier seine Lehre als Schweißer begonnen, heute ist er Vorsitzender des Betriebsrats bei Europipe. Damals, als Fidan in den 80er Jahren begann, waren auf dem riesigen Produktionsgelände bei Mannesmann noch insgesamt rund 3500 Menschen tätig, erinnert sich der 58-Jährige.
Europipe in Mülheim hat eine Stammbelegschaft von rund 400 Mitarbeitenden
Heute beschäftigt Europipe, ein Joint Venture der Salzgitter AG mit der AG der Dillinger Hüttenwerke, nach einer Restrukturierung eine Stammbelegschaft von rund 400 Mitarbeitenden. „Das soll auch in dieser Größenordnung bleiben“, sagt Geschäftsführer Schröter und verweist darauf, dass die Rohrproduktion ein Projektgeschäft sei. „Die Marktaussichten sind jetzt gut. Langfristig planen wir mit zwei Schichten.“ Der Stellenabbau, der seit 2019 im Rahmen eines Freiwilligenprogramms stattfand, sei abgeschlossen. Um mehr als 100 Mitarbeiter hat das Unternehmen seine Stammbelegschaft innerhalb von rund drei Jahren reduziert. „Es gab keine Entlassungen, das Abfindungsprogramm lief lange“, unterstreicht IG-Metall-Gewerkschaftssekretär Thomas Hay und auch der Betriebsratsvorsitzende Dogan Fidan betont: „Der Stellenabbau ist extrem sozialverträglich gelaufen, alles auf freiwilliger Basis.“
Seit Jahresanfang hat Europipe rund ein Dutzend ehemaliger Vallourec-Mitarbeiter eingestellt; das benachbarte Werk soll Ende des Jahres geschlossen werden. Weitere Übernahmen sollen folgen, kündigen die Geschäftsführer an, man sei in guter Abstimmung. Ehemals bei Vallourec Beschäftigte seien nicht nur in der Produktion bei Europipe, sondern etwa auch im Verkauf eingestiegen. Bedarf hat Europipe derzeit vor allem an Elektrikern und Schlossern. Langfristig wolle man den Zweischicht-Betrieb an fünf Tagen erhalten.
Großrohr-Werk in Mülheim beschäftigt neben Stammbelegschaft auch Leiharbeiter
Um Auslastungsspitzen abzudecken, die nicht mit der eigenen Stammbelegschaft gefertigt werden können, beschäftigt Europipe zudem Leiharbeiter. „Nur durch diese Flexibilität ist ein dauerhaft wirtschaftliches Arbeiten und die Sicherung der Stammarbeitsplätze möglich“, ordnet Geschäftsführer Menneking ein. Bis ins vierte Quartal sei das Mülheimer Werk derzeit ausgelastet, sagt Schröter. Auch darüber hinaus seien die Aussichten positiv.
Die Nachfrage an Großrohren mit einem Außendurchmesser bis zu 1524 Millimetern sowie mit Wanddicken bis zu 50 Millimetern sei gestiegen, seit Russland sich durch den Krieg in der Ukraine als Wirtschaftskraft ins Abseits katapultiert habe. Zudem wandele sich derzeit der Bedarf an Rohren, die extremen Beanspruchungen wie denen im ewigen Eis oder dem hohen Druck in der Tiefsee standhalten – etwa bei Offshore-Anlagen. War zuvor ein Großteil der Energieversorgung auf Gas ausgerichtet, spielten auch bedingt durch die vom Krieg ausgelöste Knappheit und die immensen Preissprünge Alternativen wie Wasserstoff eine wichtigere Rolle.
Neues Geschäftsfeld: Der Transport von Kohlendioxid
Mit Blick auf die Klimaneutralität werde auch die Speicherung von Kohlendioxid mehr und mehr zum Geschäftsfeld, berichten die Europipe-Geschäftsführer. „Das kommt nun schneller als vermutet“, sagt Falko Schröter. Und IG-Metall-Gewerkschaftssekretär Thomas Hay unterstreicht: „Europipe ist eines der wenigen Unternehmen, die überhaupt in der Lage sind, mit seinen Rohren CO2 über längere Distanzen zu transportieren.“ Norwegen etwa treibt die unterirdische Speicherung von Kohlendioxid voran.
„Entscheidend für den Ersatz von Kohle und Kohlenwasserstoffen, die zum CO2-Ausstoß etwa in der Stahl-, Metall-, Chemie- und Zementindustrie führen, ist die Verfügbarkeit und der Preis von Wasserstoff“, ordnet Roger Menneking ein und betont: „Hierfür sind neue Herkunftsländer, großtechnische Herstellungsverfahren für Wasserstoff und Anwendungsverfahren zum Einsatz von Wasserstoff sowie entsprechend dimensionierte Leitungen notwendig.“
Zuerst, fordert die Europipe-Führung, müssten die Europäische Union und die Nationalstaaten planerische Rahmenbedingungen schaffen, um die Verfügbarkeit zu erhöhen. „Dies betrifft insbesondere die Transportnetze.“ Hier kommen dann Europipe-Rohre ins Spiel. Zum zeitlichen Horizont sagt Menneking: „Das Hochlaufen der Produktion beziehungsweise der Import von Wasserstoff wird aber bestimmt zehn bis 20 Jahre dauern.“
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