Mülheim. Mülheims Tierheimchefin verabschiedet sich – nach 31 Jahren. Viel Leid hat sie gesehen, nie aufgegeben. Gerade macht ihr ein Schäferhund Kummer.
Der Himmel hängt grau über dem Forstbach und den Wiesen an der Horbeckstraße. Der Nieselregen legt zu. In einem Unterstand vor dem Mülheimer Tierheim, auf Holzbänken, in Daunenjacken beziehungsweise Arbeitskleidung, findet das Abschiedsinterview mit der sehr langjährigen Leiterin Marion Niederdorf statt. Auch die Chefin des städtischen Veterinäramtes ist dabei, Heike Schwalenstöcker-Waldner, und Niederdorfs Nachfolgerin, Gaby Lanfers.
Das winzige, komplett vollgestellte Büro im Hauptgebäude hätte die Gruppe nicht fassen können. Zumal dort Friedhelm Niederdorf gerade am PC beschäftigt ist, der sich eigentlich schon seit einem Jahr im Ruhestand befindet. Nun, mit 69 Jahren, folgt seine Frau ihm nach. Seit Anfang der neunziger Jahre hatte das Ehepaar das Mülheimer Tierheim Seite an Seite geleitet. An diesem Freitag hat Marion Niederdorf ihren offiziell letzten Arbeitstag.
Langjährige Mülheimer Tierheim-Leiterin: Ab Oktober offiziell in Rente
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Sie wird ab Oktober nicht, wie andere Neurentnerinnen, einen ersehnten, ausgedehnten Urlaub antreten, sondern in Mülheim bleiben. Auf Reisen verzichten Niederdorfs seit langem, nicht nur ihren beiden Hunden Tapsi und Mikey zuliebe. „Wir sind auch beide sehr häuslich.“ Sie bleiben neben dem Tierheim wohnen und wollen weiterhin ehrenamtlich mithelfen. Aber eben nicht mehr für alles rund um die Uhr verantwortlich sein.
Als sich die Niederdorfs 1991 um die Tierheim-Leitung bewarben, kamen sie aus komplett anderen Berufen. Friedhelm Niederdorf war bei Mannesmann tätig, Marion Niederdorf im Innendienst bei der Steuerfahndung. Sie übernahmen die neue Aufgabe mit ganzem Herzen, mit Haut und Haaren, und ihr Engagement war sicher auch ein Glücksgriff für die Stadt Mülheim.
Im maroden Haus „immer versucht, das Bestmögliche für die Tiere herauszuholen“
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Bemerkenswert ist etwa die freundliche Gelassenheit, mit der Marion Niederdorf über viele Jahre schon den heruntergekommenen baulichen Zustand des Tierheims hinnimmt, den Mangel an modernen Hundezwingern, das klapprige, hölzerne Katzenhaus. „Wir haben immer versucht, das Bestmögliche für die Tiere herauszuholen“, sagt sie bescheiden. Die überfällige Sanierung beschleunigen, vermochte sie nicht. Längst ist ein gangbarer Weg zur Finanzierung gefunden, eine maßgebliche Rolle spielt dabei der Mülheimer Tierschutzverein, nun sorgen mögliche Altlasten im Baugrund für weitere Verzögerungen.
In dieser Verfassung wird die neue Tierheimchefin Gaby Lanfers das Haus Anfang Oktober übernehmen, doch es wird sie kaum schrecken. Die 39-Jährige arbeitet schon seit zwei Jahrzehnten hier, hat ihre Ausbildung an der Horbeckstraße absolviert und ist seitdem geblieben. Vier festangestellte Kräfte bilden das Tierheim-Team, ausnahmslos Frauen. Nach dem Ausscheiden von Marion Niederdorf werde eine Stelle nachbesetzt, kündigt die Veterinäramtsleiterin an – mit einer Auszubildenden, die kurz vor der Prüfung steht. Die Leitung wird künftig nicht mehr auf dem Tierheim-Grundstück wohnen und automatisch rund um die Uhr in Alarmbereitschaft sein.
Nächtliche Rufbereitschaft geplant
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„Wir werden ein anderes Arbeitszeitmodell entwickeln“, erklärt Heike Schwalenstöcker-Waldner, „ein versetztes Schichtsystem.“ Auf diese Weise sollen die Randzeiten besser abgedeckt werden, ergänzt um eine Rufbereitschaft, wenn etwa nachts Tiere gebracht werden, von Feuerwehr oder Ordnungsamt, und versorgt werden müssen.
Momentan gerät das Tierheim vor allem bei der Aufnahme von Hunden an seine Grenzen – und darüber hinaus. Einige haben schon keinen Platz mehr gefunden und mussten in Pensionen untergebracht werden. Fundtiere sind darunter, aber auch Hunde, die sichergestellt wurden, etwa die sogenannten § 3-Hunde, die nach NRW-Recht als „gefährliche Hunde“ eingestuft und nur mit behördlicher Erlaubnis gehalten werden dürfen. Die Situation im Tierheim sei angespannt, erläutert Marion Niederdorf: „Wir haben aktuell sehr viele große und schwierige Hunde hier und auch wenig Wechsel.“ Weil genau diese Tiere schwer zu vermitteln sind.
„Immer mehr Leute schaffen sich unüberlegt Tiere an“
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Die erfahrene Tierheimleiterin sieht eine problematische Entwicklung – nicht bei den Tieren, sondern bei den Menschen. „Immer mehr Leute schaffen sich unüberlegt Tiere an. Viele machen sich auch keine Gedanken darüber, was es bedeutet und was es kostet, ein Tier zu halten. Bisher konnten sie sich darauf verlassen, wenn es nicht klappt, kümmert sich das Tierheim.“ Doch das arbeitet längst am Limit. Daher lautet ihre dringende Bitte: „Man solle sich vorher wirklich gut überlegen: Kann ich mir finanziell ein Tier erlauben?“
Sie selber hat im Laufe ihres Berufslebens vielerlei Lebewesen betreut und sicher auch ins Herz geschlossen. Hunde, Katzen, Kaninchen, Mäuse, Nymphensittiche, Schildkröten, Ferkel. Die ungewöhnlichste Herausforderung seien aber die 400 Chinchillas gewesen, die in der Adventszeit 2016 aus schlechter Haltung beschlagnahmt wurden, teils aus einem Mehrfamilienhaus in Saarn, teils aus einem abgestellten Wohnmobil. Die Stadt Mülheim musste eigens eine Halle anmieten, zwei Tierpfleger einstellen. Ein Kraftakt.
Leidender Schäferhund bewegt das ganze Team
Welches Tier hat ihr Herz in all den Jahren am nachhaltigsten bewegt? Marion Niederdorf ist plötzlich ganz in der Gegenwart, hört in sich hinein. Sie hätten gerade einen Schäferhund zu pflegen, den das Oberhausener Ordnungsamt sichergestellt und gebracht habe. Er wurde nach einer Woche aus der Tierklinik entlassen, in elendem Zustand. „Er hat kaum noch Fell, seine ganze Haut ist entzündet.“ Er bekommt Schmerzmittel und Antibiotika. „Das Leid dieses Tieres bewegt alle hier“, sagt Marion Niederdorf.
Sie wird selber verfolgen können, wie es mit dem Schäferhund weitergeht. Denn Marion Niederdorf, die Frau mit dem großen Herzen für Tiere, wechselt nicht komplett in den Ruhestand, nur vom Hauptberuf in die Freiwilligkeit.