Mülheim. Auf der Mülheimer Volxbühne ließen Künstler die Kultur der Ukraine aufleben. Was die Live-Schaltung in eine umkämpfte Hafenstadt gezeigt hat.

Rund 60 Zuschauer passen in das kleine Theater der Volxbühne in der Adolfstraße, und die Plätze sind gut besetzt. Was das Publikum erwartet, kommt schnell zum Ausdruck, denn mitten im Foyer steht eine unübersehbare Spendenbox in den ukrainischen Nationalfarben Blau und Gelb, die schon vor der Veranstaltung mit Scheinen gefüllt wird.

Das Benefizkonzert – Eintritt frei, um Spenden für die Ukraine wird gebeten – erlebte seine Premiere bereits vor Kriegsbeginn, wie die ukrainische Musikerin Mariana Sadovska später erzählt. „Wir haben schon am 13. Februar mit Art Against War angefangen, haben Lärm gemacht.“ Geboren in Lviv, lebt sie seit 2002 in Köln. Ihr Mann André Erlen, einer der Leiter des Kölner Theaters Futur 3, ist auch ihr künstlerischer Partner und moderiert den vielstimmigen Abend.

Musik zieht das Publikum in Mülheim in die ukrainische Kultur hinein

Mit Musik wird das Publikum hineingezogen in die ukrainische Kultur. Die zunächst so transparenten Klavierklänge erhalten nur langsam mehr Fülle, dann schleicht sich die Sängerin Mariana Sadovska mit Stöhnen in die Musik, bis sie anfängt zu singen und parallel auch das indische Harmonium bedient. Die enormen Intervallsprünge meistert sie spielerisch mit ihrer ausdrucksvollen Stimme, die ganz anders als in westlicher Musik benutzt wird.

Das ukrainische Kolorit, diese ganz eigentümliche Gesangsart – laut, gepresst, auch geschrien und gejohlt – verleiht dem gesamten Abend einen sehr ursprünglichen, extrem Ukraine nahen Charakter. Zumal die Sängerin nicht alleine auftritt, viele Freunde mitgebracht hat, zum Beispiel den gemischten deutsch-ukrainischen Chor aus Köln, der ukrainische Polyphonie präsentiert. Mit dessen harten Klängen, häufig auch elegischem Klagegesang, vermischt sich ein mittelalterliches Lied aus Deutschland, was eine ganz eigentümliche, sehr bewegende Stimmung verbreitet.

Geflüchtete Julia erzählt, dass Putin ihrer kleinen Tochter die Kindheit gestohlen hat

Zur Vielfalt der Ukraine gehört auch eine dreiköpfige Ethnogruppe, drei Frauen in weißen, rot bestickten Blusen, mit wohl typischen Ketten und einer roten oder grünen Schärpe. Der Rest des Ensembles befindet sich noch in der Ukraine. Ergreifend, wenn die geflüchtete Julia erzählt, wie schwer es ihr fiel, die Heimat zu verlassen. Dass Putin ihrer zweijährigen Tochter die Kindheit gestohlen hat. Oder wie Putin die Realität verdreht, wenn er behauptet, in der Ukraine dürfe nicht Russisch gesprochen werden. Das Gegenteil sei der Fall, mischt sich eine Ukrainerin aufgebracht ein: „Wer Ukrainisch spricht, wird als ukrainischer Nazi beschimpft!“

Autor Marc Zak las bei der Benefizveranstaltung zugunsten der Ukraine in der Volxbühne in Mülheim aus seinem Buch über den ukrainischen Anarchisten Nestor Machno.
Autor Marc Zak las bei der Benefizveranstaltung zugunsten der Ukraine in der Volxbühne in Mülheim aus seinem Buch über den ukrainischen Anarchisten Nestor Machno. © FUNKE Foto Services | Dirk A. Friedrich

Die Solidaritätsveranstaltung Art Against War beschränkt sich nicht auf Musik. Mit der Lesung von Mark Zak aus seinem Buch über den ukrainischen Anarchisten Nestor Machno – das Buch liegt kostenlos zum Mitnehmen bereit – wird der aktuelle Krieg in der Ukraine in historische Zusammenhänge gestellt. Denn in den Zitaten aus der Zeit des Ersten Weltkrieges kommt schnell zum Ausdruck, dass die Ukraine – allein schon wegen ihrer Bodenschätze und dem fruchtbaren Land – sich perfekt als Beute eignete und dementsprechend sehr viele Besetzungen und Regimes erlebt hat.

Weitere Lesungen erweitern die Perspektive, so trägt unter anderem der Kölner Schauspieler Stefan H. Kraft das Gedicht „Zu viel Krieg“ des Ukrainers Serhij Zhadan vor. Eine der beredten Zeilen: „Alle waren gewarnt.“

Live-Schaltung via Internet in die Ukraine: Soziologe berichtet von Lebensgefahr

Und dann steht sie, die angekündigte Live-Schaltung via Zoom in die Ukraine zum Soziologen Mykola Homany, der allein schon wegen seiner alten Eltern, seiner beiden Kinder und seiner Studierenden in Cherson ausharrt, die er übers Internet unterrichtet. Er erzählt von der Lebensgefahr in der Stadt, aber auch von der Selbstorganisation vor Ort, dass die Bauern aus dem Umland die Städter mit Lebensmitteln versorgen.

Da klingt eine erstaunliche Gelassenheit mit. Selbst als er berichtet, dass er einige kennt, die fliehen wollten und zu Tode gekommen sind. Fast beiläufig zieht er an seiner E-Zigarette. Der allgegenwärtige Tod ist für ihn anscheinend zur Normalität geworden.

Die Kultur des bedrohten Landes wird auf Mülheims Volxbühne gefeiert

Wichtig ist dem Soziologen, dass die übrige Welt laut wird, die Ukraine nicht vergisst, immer wieder darüber spricht – und sein Heimatland aktiv unterstützt. Kapitulation sei keine Option, sagt Homany.

Es gibt am Abend viel Applaus, auch als Mutmacher bei der Live-Schaltung, worauf Mykola Homany mit befreitem Lachen und Winken reagiert. Ob das reicht, werden sich einige im Publikum gefragt haben. Das Wort „Gewissensberuhigung“ fiel im Vorfeld der Veranstaltung gleich mehrmals. Ganz sicher reicht nicht ein Abend, reicht nicht eine Spende, aber Solidarität zu zeigen, ist und bleibt wichtig – aber eben auch die Kultur des bedrohten Landes zu feiern.

Spendenaufruf Art Against War

Mariana Sadovska und André Erlen sammeln zusammen mit der ukrainischen Organisation Safe Life humanitäre Hilfsgüter und Ausrüstung für die zivilen Verteidigungskräfte. Das ist vor allem Schutzausrüstung wie Helme und Westen, umfasst aber auch die mit 3.000 Euro kostspieligen Nachtsichtgeräte, von denen sie bereits einige in die Ukraine schicken konnten, wie Mariana Sadovska erzählte. Spenden-Kontakt: info@jetzt-spenden-ukraine.com, 0157-3013 2991.Bürgermeisterin Ann-Kathrin Allekotte als Vertreterin der Stadt Mülheim informierte zu Beginn des Benefizkonzertes über die vielfältigen Optionen, die Mülheimern zur Verfügung stehen, wenn sie geflüchteten Ukrainerinnen und ihren Kindern helfen wollen. Am Freitag seien es 666 Menschen gewesen, von denen ein Drittel in städtischen Unterkünften wohnt, zwei Drittel privat, so Allekotte.