Mülheim. Berühmte Mülheimer stellt unsere Zeitung ab sofort in loser Folge vor. Den Anfang macht Gerhard Tersteegen. Was der Prediger tat und hinterließ.
Sein ehemaliges Haus an der Teinerstraße ist seit 2017 eine Baustelle. Doch sein geistiges Erbe ist lebendig. Es kommt unter anderem in dem Lied: „Ich bete an, die Macht der Liebe, die sich in Jesus offenbart!“ zum Ausdruck.
Der einprägsame Vers, den der Mülheimer Gerhard Tersteegen 1729 in sein „Geistliches Blumengärtlein inniger Seelen“ schrieb, wird heute nicht nur als Kirchenlied in Gottesdiensten gesungen. Er ist in seiner vom ukrainisch-russischen Komponisten Dimitri Stephanowitsch Bortjanski vertonten Fassung auch Teil des militärischen Zapfenstreiches. Mit ihm wurde zuletzt Bundeskanzlerin Angela Merkel aus ihrem Amt verabschiedet.
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Kaufmann statt Theologiestudium
Tersteegens Wiege stand in Moers. Hier wurde er 1697 als eines von acht Geschwisterkindern geboren. Er besuchte die Lateinschule und wollte Theologie studieren. Doch der Vater starb früh. Deshalb fehlte das Geld für Tersteegens geistliche Ausbildung. Notgedrungen musste er ab 1712 bei seinem Mülheimer Schwager Matthias Brink als Kaufmann arbeiten. Später verdiente der stets kränkelnde Tersteegen seinen Lebensunterhalt als Weber. Doch dann fand er Gönner und Gleichgesinnte, die es ihm erlaubten, sich seiner geistlichen Berufung zu widmen.
Zu den bekanntesten seiner mehr als 1000 Werke, die uns der Mystiker aus Mülheim hinterließ, gehören seine „Lebensbeschreibungen heiliger Seelen“. Manches, was er schrieb und sagte, klingt in unseren Ohren heute fremd. Anderes vermittelt uns eingängig existenzielle Wahrheiten. 1746 zog Gerhard Tersteegen in das damals bereits über 200 Jahre alte Haus an der Teinerstraße 1, dass wir seit 1950 als Heimatmuseum kennen, aber seit 2017 nicht mehr betreten können.
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Populärer Konkurrent der Pfarrer
In diesem Haus lebte und arbeitete Tersteegen bis zu seinem Tod am 3. April 1769. Zu seinem 250. Todestag hat der von Bürgermeister Markus Püll geführte Förder- und Freundeskreis des Tersteegenhauses einen Gedenkstein restauriert und vor der Petrikirche aufgestellt, den Tersteegens Anhänger 1838 gestiftet hatten. Doch dieser fristete, seitlich der Petrikirche, lange ein Schattendasein.
Das passte ins Bild. Denn Tersteegens geistliches Denken, Schreiben und Predigen war für seine Zeit zu ökumenisch, zu radikal und zu kirchenunabhängig. Der Pietist Tersteegen glaubte an eine persönliche und kirchenunabhängige Gottesbeziehung des Menschen. Bis heute streiten sich seine Biografen darüber, ob er jemals die Petrikirche vor seiner Haustür betreten hat. Die Pfarrer von Petri hatten in Tersteegen eine populäre Konkurrenz. Hunderte pilgerten zu seinem Haus, um ihn predigen zu hören. Seine Predigten und Schriften wurden am gesamten Niederrhein und in den Niederlanden gehört und gelesen.
Humanitäre Hilfe für Bedürftige
Doch der bescheidene Tersteegen hatte keine Starallüren. Er unterschied nicht in katholische und evangelische, sondern nur in gute und schlechte Predigten. Für ihn stand nicht die Konfession der Menschen im Mittelpunkt, sondern die individuelle Gottes- und Wahrheitssuche. So scheute sich der protestantische Pietist Tersteegen auch nicht, die Schriften der katholischen Mystikerin Theresia von Avila zu übersetzen.
Tersteegen nutzte seine Popularität und die ihm zufließenden Spenden nicht nur für die eigne Existenzsicherung, sondern auch für humanitäre Hilfe im Sinne christlicher Nächstenliebe. Er ließ Bedürftigen nicht nur gute Worte, sondern auch unentgeltlich Haus- und Naturheilmittel und Lebensmittel zukommen. In einer Denkschrift forderte der Gottesmann aus Mülheim den preußischen König Friedrich II. auf, seine Kriegspolitik aufzugeben und sich zum Christentum zu bekehren.
Grab auf altem Kirchhof verschwand 1812
Auch wenn Tersteegens Grab auf dem alten Kirchhof der Petrikirche verschwand, weil dieser 1812 durch den ersten städtischen Friedhof an der Dimbeck ersetzt wurde, bleibt Tersteegens Erbe bis heute als Namenspatron zahlreicher diakonischer Einrichtungen lebendig.
Aus Gerhard Tersteegens Feder:
„Wer immer sich beschaut, wird darum nicht frei von sich.“
„Reich ist, wer viel hat. Reicher ist, wer wenig braucht und am reichsten ist, der viel gibt.“
„Ein Tag sagt es dem anderen: Mein Leben ist ein Wandern zur großen Ewigkeit.“
„Eine kleine Treue ist oft eine große Kraft.“
„Ein begriffener Gott ist kein Gott.“
„Sich selbst zur Last sein und sich dennoch selbst zu tragen, ist ein tapferes Leiden.“
„Ich frage nicht, woher sie kommen, sondern wohin Sie wollen.“
„Liebe haben und Liebe fühlen ist nicht allzeit beisammen.“
„Durch die Liebe werden die bittersten Leiden süß, die wunderlichsten Begebenheiten gut und die kleinen Werke groß und göttlich.“
„Erkenne dich selbst: Wie kann ein Mensch über andere klagen? Mir fehlt die Geduld, dass ich mich selbst kann, tragen. Wer tief sich kennt und fühlt sich recht, ist gerne der größten Sünder Knecht.“
„Denke nicht voraus und nicht zurück. Beides bringt Unruhe. Der gegenwärtige Augenblick muss eure Wohnung werden. Darin findet man allein Gott und seinen Willen.“
„Die Einsamkeit ist die Schule der Gottseligkeit.“
„Meidet allen heimlichen Argwohn.“
„Woran wir denken, da ist unser Schatz.“