Duisburg/Mülheim. Eine regional ausgerichtete Selbsthilfegruppe in Duisburg versucht, Angehörigen von Menschen mit Borderline-Syndorm den Umgang mit der schwierigen psychischen Erkrankung zu erleichtern. Jahrzehntelang standen die Familien mit ihren Fragen alleine da.
Sie sind meist besorgte Eltern, die Teilnehmer an der neuen Selbsthilfegruppe für die Angehörigen von Menschen, die am Borderline-Syndrom leiden. Und bei aller Verschiedenartigkeit der Lebensgeschichten scheint ihren Kindern, um die es geht, eines gemeinsam zu sein: Überforderung im Leben.
Elke (52) aus Duisburg etwa erzählt von ihrer heute 28-jährigen Tochter. Als Kind sei sie nie aufgefallen. Wohl aber in der Pubertät. „Da hat sie sich durch auffällige Kleidung in Szene gesetzt.” Mit 18 wurde sie schwanger – von einem Drogenabhängigen, von dem sie sich schnell trennte. Während ihre Eltern sich um das Enkelkind kümmerten, holte die Tochter erst das Abitur nach, absolvierte dann auch eine Lehre.
„Eines Tages, sie war 25 Jahre alt”, berichtet Elke, „erkrankte sie an Migräne” – an einer extremen Form dieser Kopfschmerzen. Von dieser Zeit an wechselten kurze und längere Aufenthalte in Kliniken, auch in der Psychiatrie, mit Phasen der Selbstständigkeit ab, in denen sie teilweise sogar arbeiten und sich um ihr Kind kümmern konnte. Momentan gehe es ihr gut, berichtet Elke. „Aber bei jedem Anruf schwingt die Angst mit, ob sie wieder in die Klinik muss.” Auch das Enkelkind leide darunter. Heute erst stehe ihre Tochter dazu, sagt Elke, dass sie jahrelang extreme Ängste ausgestanden habe, ob sie alles schaffen werde. Mittlerweile steht sie unter Betreuung, weil ihr die Finanzangelegenheiten zeitweise über den Kopf gewachsen waren. Und ihr stehen zwei Familienpflegerinnen zur Seite.
Wohl behütet aufgewachsen
Michaels drittes Kind, seine heute 25-jährige Tochter, wuchs wohlbehütet in Essen auf. „Alles war ganz normal”, sagt der 53-jährige Vater. „Ausnahme: Ihren beiden Geschwistern flog in der Schule alles zu, während sie hart dafür arbeiten musste.” Kaum saß ihr Bruder in der Klasse nicht mehr neben ihr, weil er aufs Gymnasium wechseln konnte, erkrankte das Mädchen nicht nur an Migräne, sondern zog sich völlig in sich selbst zurück. Die Zwölfjährige wurde stationär in der Jugendpsychiatrie behandelt. Diagnose: Sie leide unter Verlustängsten wegen ihres Vaters. Der war damals an Multipler Sklerose erkrankt. „Tatsächlich”, weiß der Vater heute, „wurde sie in der Schule massiv gemobbt. Ihr Bruder aber konnte sie nicht mehr in Schutz nehmen.”
Erzählt habe sie davon erst Jahre später. Äußerst schüchtern sei das Mädchen stets gewesen, habe sich vom Bruder alles außer Haus erledigen lassen, während sie für ihn daheim Ordnung hielt. „Sie hat sich fürchterlich damit unter Druck gesetzt, mit ihren erfolgreichen Geschwistern mithalten zu müssen”, so Michael. Und so wählte sie nach dem Abitur eine sehr anspruchsvolle Berufsausbildung, legte auch privat auf penible Ordnung und Sauberkeit größten Wert.
Bis heute hat die junge Frau nie Freundschaften gehabt. „Vor anderthalb Jahren”, erzählt ihr Vater, „entdeckten wir bei ihr Verletzungen an den Armen.” Die habe sie aber ihrem Hund zugeschoben. Dann bemerkten die Eltern, dass die Prüfungsbelastung der Tochter stark zusetzte. „Wir stellten fest, dass sie sich selbst verletzt – mit scharfen Gegenständen.” Seit einem halben Jahr ist sie krankgeschrieben, wartet auf eine Therapie. Und das bereite neue Probleme, sagt Michael: Antriebslosigkeit. Sie müsse geweckt werden, irgendwann gegen Mittag, müsse zu allem angehalten werden, etwa zum Lesen, zum Büffeln für die Prüfung, zum Waschen. „Sie sagt, ,ich kann einfach nicht lernen'”, berichtet der Vater. Dabei habe sie immer viel Ehrgeiz besessen.
Selbsthilfegruppe sucht die Vernetzung
„Wo gibt es geeignete Therapeuten?” – „Wer bietet ,Skills'-Gruppen an, die versuchen, die Aggressivität der Patienten in Kreativität umzulenken?” – „Wie geht man mit Vorurteilen um, die Eltern seien selbst schuld, etwa wegen Gewalt in der Familie oder Leistungsdruck oder dominanter Mütter oder wegen sexuellen Missbrauchs?” Fragen wie diese bestimmen die Sitzungen der Selbsthilfegruppe. Jahrelang standen die Familien damit allein.
Sabine Thiels Ziel ist es, für eine Vernetzung aller Stellen zu sorgen, die mit Borderlinern zu tun haben – um ihnen und den Angehörigen bestmögliche Hilfen zu ermöglichen. Die Duisburger Selbsthilfegruppe kommt alle 14 Tage in „Haus Dickelsbach”, Musfeldstraße 161 im Stadtteil Hochfeld, zusammen. Nächster Termin: 13. Januar, 18 Uhr. Auch Mülheimer sind dort willkommen. Infos vorab gibt Thiel unter Telefon 0208/41 00 180.
Auf und Ab der Gefühle: Ein Arzt erklärt
Jeder Zwanzigste in Deutschland erkrankt im Laufe seines Lebens an einer schweren Depression. Vom Borderline-Syndrom werden etwa halb so viele Menschen betroffen. Der Name besagt, dass die Krankheit an der Grenze zwischen Neurose und Psychose liegt. Neurose wird dabei als Verhaltens- und Empfindungsstörung verstanden, Psychose als gestörte Realitätswahrnehmung bis hin zu Wahnzuständen.
„Typisch für einen Borderliner ist”, sagt Dr. Rudolf Groß, der Chefarzt der Psychiatrie am Marienhospital in Mülheim, „dass er, wenn er eine neue Bekanntschaft macht, den Partner zunächst vergöttert.” Normalerweise gehe diese Idealisierung in eine realistische Einschätzung über. Nicht so beim Borderliner: „Da schlägt es gleich in Hass um.”
Borderliner sind also emotional hoch sensibel und gleichzeitig äußerst instabil, sind zu immensem Sich-Ärgern fähig, sie handeln impulsiv, verlieren dabei teilweise die Kontrolle über sich, leiden an einem phasenweise sehr negativen Bild von sich selbst und streben enge Beziehungen an, die sie andererseits wieder nicht ertragen können. Um die Spannungen, unter denen sie leiden, abzubauen, verletzen sie sich manchmal selbst.
Seit den 1970er Jahren, so Dr. Groß, sei das Krankheitsbild richtig bekannt. Heilung sei nicht möglich, wohl aber Linderung. „Die Therapie versucht heute, den Betroffenen mehr Verständnis über sich selbst und ihre Erkrankung zu vermitteln.” So könnten sie sich auf Situationen, in denen sie typisch reagieren, besser einstellen. Und sie könnten lernen, nicht nur in Kategorien von gut und schlecht, Liebe und Hass, zu denken. Außerdem gehe es um Alternativen zum selbstverletzenden Verhalten, etwa Trommeln statt Ritzen. „Mit zunehmendem Alter geht die Symptomatik deutlich zurück”, sagt Dr. Groß. Andererseits aber nehme sich jeder fünfte Borderliner das Leben. Beste Vorbeugung sei eine glückliche Kindheit.