Mülheim. Die Stadt Mülheim sucht Pflegeeltern. Eine Familie erzählt, wie es war, ihr Pflegekind aufzunehmen, wie sie sich schockverliebten in ihren Sohn.

„Schockverliebt“ sei sie gewesen, als sie ihren Sohn das erste Mal gesehen hat. Ein Gefühl, dass viele Eltern kennen, wenn sie ihr Kind erstmals im Arm halten. Das Besondere: Moritz* ist damals bereits acht Monate alt, seine biologische Mutter eine andere. Stefanie Berger* und ihr Mann Matthias haben ihn vor über neun Jahren als Pflegekind aufgenommen. „Wir sind eine ganz normale Familie.“

Das Paar wusste damals, dass es keine leiblichen Kinder bekommen kann, konnte sich auch vorstellen, ein Leben zu zweit zu bestreiten. Doch die vielen Kinder im Familien- und Freundeskreis brachten die beiden ins Grübeln. „Es ist schön, jemanden wachsen und gedeihen zu sehen“, sagt Stefanie Berger.

Entscheidung für ein Pflegekind: „Eine intensive Zeit“

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Als Bekannte sich für ein Pflegekind entschieden, fing das Ehepaar – damals Ende 30 und Anfang 40 – an, sich schlauzumachen. Die beiden wendeten sich an den Pflegekinderdienst, eine „intensive Zeit“ begann, wie Stefanie Berger erzählt. „Wir haben uns selbst reflektiert: Was können wir leisten und was nicht?“

Oft kommen Pflegekinder aus schwierigen Verhältnissen, Alkohol- und Drogenmissbrauch der leiblichen Mütter sind keine Seltenheit. Das kann Folgen für die Kinder haben, sie können unter Handicaps leiden. Doch dass Genetik nur das eine ist, die Erziehung das andere, hat Stefanie Berger gelernt. „Mein Kind hat unheimlich viel von mir“, sagt sie.

„Sie haben noch Fragen?“ – „Nein, ich habe ein Kind für Sie“

Damals, im Herbst 2012, lebt Moritz bei der Bereitschaftspflege. Seine leibliche Mutter konnte sich unter Drogeneinfluss nicht um ihn kümmern. Stefanie und Matthias Berger sind zu dem Zeitpunkt noch in der Bewerbungsphase, da ruft die heute 47-Jährige eine Mitarbeiterin des Pflegekinderdienstes zurück. „Sie haben noch Fragen?“ – „Nein, ich habe ein Kind für Sie.“

Als sie Moritz das erste Mal sieht, springt sofort der Funke über. „Es war um uns geschehen.“ Sie informiert ihren Arbeitgeber, dass sie Mutter wird, beginnt, Moritz besser kennenzulernen, ihn täglich zu besuchen, macht ihm das Frühstück, bringt ihn ins Bett. Mit der Zeit nimmt das Paar das Baby immer mehr mit nach Hause. Nach drei Wochen kippt die Stimmung: Moritz weint, wenn es zurück in die Bereitschaftspflege geht, will nur noch bei seinen neuen Eltern bleiben. Da nehmen sie ihn mit zu sich nach Hause – für immer.

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„Wir waren erst mal nur für uns, nur wir drei“, erzählt Stefanie Berger. Der Pflegekinderdienst habe ihr geraten, erst mal eine Einheit zu werden. Und Moritz behutsam an die neue Umgebung zu gewöhnen: Die Familie kauft das gleiche Waschmittel wie die Bereitschaftspflege, den gleichen Schlafsack, lässt das Zimmer kalt, so wie es Moritz aus seinem Interims-Zuhause gewöhnt ist.

Mülheimer Pflegekinderdienst: Biografie-Arbeit ist wichtiger Teil

Von Anfang an erzählt das Paar dem Kleinen, dass er eine andere leibliche Mutter hat. Er sieht sie regelmäßig, bis vor vier Jahren der Kontakt abbricht, weil es ihr schlechter geht. Er hat eine Erinnerungskiste mit einem Kuscheltier und einem Kettchen seiner leiblichen Mutter, schaut sich regelmäßig Fotos von ihr an.

Stadt Mülheim sucht Pflegeeltern

Die Stadt Mülheim sucht Pflegeeltern, sowohl für die Bereitschaftspflege als auch für die Vollzeitpflege. Bei der Bereitschaftspflege müssen Familien sehr flexibel sein: Es kann passieren, dass sie sehr kurzfristig ein Kind aufnehmen sollen – und auch nach kurzer Zeit schon wieder abgeben müssen.

Für die Vollzeitpflege gibt es keine starren Voraussetzungen. „Die Bereitschaft zur Zusammenarbeit über Jahre, Offenheit und Reflexion, Durchhaltevermögen und Mut und gerne auch krisenerprobt“, zählt Nadine Westbrock vom Pflegekinderdienst Eigenschaften auf, die hilfreich sind.

In sieben bis acht Terminen á zwei Stunden erstellen die angehenden Pflegeeltern mit den Mitarbeitern des Pflegekinderdienstes ein Profil, in dem alle Rahmenbedingungen, die für die Eltern in Frage kommen, geklärt werden.

Wer sich vorstellen kann, ein Pflegekind aufzunehmen, kann sich beim Pflegekinderdienst der Stadt melden: www.muelheim-ruhr.de/cms/adoptionsvermittlung1.html, Telefon: 0208/455 5179.

„Die Biografie-Arbeit ist ein wichtiger Teil“, sagt Nadine Westbrock vom Kinderpflegedienst. „Jeder Mensch will wissen, wo er herkommt.“ Die Umgangskontakte gehörten immer dazu. Es herrscht eine gegenseitige Wertschätzung: Während die Mutter glücklich ist, dass ihr Kind ein gutes Zuhause hat, sind die Bergers der Mutter dankbar, weil es ohne sie das Kind gar nicht gäbe.

Zahl der potenziellen Pflegeeltern geht zurück, Adoption mehr gefragt

Derzeit geht die Zahl der potenziellen Pflegeeltern zurück, die der Adoptionsanwärter steigt. Während für die Pflege weiter Eltern gesucht werden, warten Eltern oft lange auf ein Adoptivkind. Ein Unterschied ist die Rechtssicherheit: Während bei der Adoption nach einem Jahr das volle Sorgerecht auf die Eltern übergeht, kann es bei der Vollzeitpflege auch bei den biologischen Eltern bleiben.

Zudem werden Pflegefamilien regelmäßig vom Pflegekinderdienst betreut, halten den Kontakt, können dort Hilfe in Konfliktsituationen finden. Für Stefanie Berger war das immer eine Bereicherung: „Wir tauschen uns regelmäßig aus, aber es ist nicht immer jemand da.“ Ebenfalls geholfen hat ihr der Austausch mit anderen Pflegeeltern.

Sie und ihr Mann haben es Moritz überlassen zu entscheiden, ob er jemandem erzählen will, dass er ein Pflegekind ist oder nicht. Weil nicht alle in ihrem Umfeld das wissen, wollen sie in diesem Artikel anonym bleiben. So oder so ist für Stefanie Berger klar: „Das ist mein Kind, auch wenn ich es nicht zur Welt gebracht habe.“

* Name von der Redaktion geändert