Mülheim. Mülheims Fliedner-Werkstätten für Menschen mit Behinderung sollen laut LVR trotz Corona zum Normalbetrieb zurückkehren. Es gibt Widerstand.
So viele Corona-Neuinfektionen in Mülheim wie noch nie musste die Stadt just vermelden. Ausgerechnet jetzt besorgt ein Schreiben des Landschaftsverbands Rheinland vor allem Menschen mit Behinderung, die in den Werkstätten der Theodor-Fliedner-Stiftung arbeiten. Der LVR fordert darin ohne Kompromiss die „Rückkehr zur Normalität“ des Mülheimer Betriebs mit derzeit 600 Beschäftigten bis zum 21. September. Andernfalls beende man die Maßnahmen und stelle die Erstattung der Kosten ein.
„Ein Fernbleiben führt also zur Nichtabrechnung“, bläst der LVR im Schreiben barsch zum Appell in einem sensiblen sozialen Bereich. Nur Krankheit und Urlaub würden akzeptiert, keine Risikogruppen und auch keine Ängste wegen Infektionsgefahr will er berücksichtigen. Ansonsten droht der Rotstift.
Dabei ist der Landschaftsverband Rheinland zuständig für Aufgaben der Behinderten und Jugendhilfe und trägt damit die Hauptlast der Maßnahmenkosten auch für die Fliedner Werkstätten. Den betroffenen Menschen droht damit nicht nur ein Verlust an Einnahmen, die mancher allerdings ohnehin mit den Sozialleistungen verrechnen muss.
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Betroffene haben Angst vor sozialer Isolation
Vor allem aber haben die Betroffenen Sorge, die unter Corona bereits eingeschränkten sozialen Kontakte und ihre wichtigen Alltagsstrukturen zu verlieren. „Ich wäre dann nur noch zu Hause, in der Isolation“, berichtet einer der Beschäftigten.
Pakete zusammenstellen und diese verschicken, ist einer seiner Jobs in den Werkstätten, wichtiger aber ist der Kontakt zu den Kollegen „und das regelmäßige frühe Aufstehen – die Arbeit in der Werkstatt gehört zu meinem geregelten Leben“, schüttelt er über die Forderungen des LVR den Kopf. „Alle wieder in den Betrieb zu holen, ist unter Corona nicht machbar – warum will man hier die Sparkeule rausholen?“
Auch Eltern melden sich, dass ihre erwachsenen Kinder mit geistiger Behinderung dann ebenfalls wieder in die Werkstätten müssten. Aktuell können sie von Zuhause aus arbeiten. „Das Risiko steigt für sie, wenn sie mit dem ÖPNV fahren müssten oder 20 Minuten zu Fuß laufen“, sorgt sich die Mutter. „Wir überlegen, ob wir dann erst einmal den Jahresurlaub opfern müssten, um nicht den Arbeitsplatz zu verlieren.“
So haben die Fliedner-Werkstätten auf Corona reagiert
Dass die Werkstätten sich bemühen, wieder Arbeit möglich zu machen, erläutert ihr Leiter Daniel Möller. Seit dem 11. Mai haben sie den Betrieb wieder aufnehmen können. Schon während des Lockdowns habe die Fliedner-Stiftung Personal nicht einfach nach Hause geschickt, sondern versucht, mit ihren Beschäftigten andere Träger wie die Awo zu unterstützen.
350 Beschäftigte hatten ab Mai dennoch an dem Werkstattalltag teilgenommen, 250 konnten das zunächst unter den Auflagen nicht. Gemeinsam mit der Stadt, Ämtern und einem Sicherheitsbeauftragten sind noch einmal 150 Mitarbeiter integriert worden. Die Arbeit werde derzeit im Homeoffice und im Schichtbetrieb organisiert – wie in vielen ,normalen’ Betrieben üblich: Mancher arbeitet wochen-, mancher tageweise, erläutert der Leiter der Werkstätten.
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Überzogene Forderung: „Niemand kehrt derzeit zum Normalbetrieb zurück“
Unser Anliegen ist es, die Vorgaben des LVR zu erfüllen“, stellt Möller klar. Einen „guten Schub“ habe man auch in Richtung Digitalisierung von Arbeitsplätzen gemacht. Doch es bleibe ein Teil, bei dem das unter den aktuellen Corona-Auflagen nicht möglich sei.
Dass nun der LVR weiter Druck mache, den Normalbetrieb fordere, ist für ihn wenig nachvollziehbar. „Niemand kehrt derzeit zum ,Normalbetrieb’ zurück. Wir suchen aber in jeder Hinsicht nach Lösungen, so viele Klienten wie möglich im Rahmen der Hygienekonzepte einzubinden, an die auch der LVR laut Coronabetreuungsverordnung für Werkstätten für behinderte Menschen gebunden ist.“
Hoffnung auf Umdenken: Gespräche am Telefon verlaufen freundlicher
LVR: Pandemie ist nachhaltig eingedämmt
Der LVR hält in einem Antwortschreiben an die Redaktion an seiner Haltung fest: Der LVR habe während der Betretungsverbote für Werkstätten „frühzeitig die Fortzahlung der laufenden Zahlungen erklärt und hierdurch finanzielle Sicherheit geboten.“
Doch nun „geht es darum, Normalität zurückzugewinnen und die Leistungen der Eingliederungshilfe wieder am gewohnten Ort in gewohntem Umfang und zu den verabredeten Konditionen zu erbringen. Die Voraussetzungen sind nun gegeben: Die Corona-Pandemie konnte in NRW wirksam und nachhaltig eingedämmt werden.“
„Rollierende Betreuungsformen oder Schichtmodelle erfüllen diese Voraussetzungen nicht.“ Eine Tür lässt Dirk Lewandrowski, Landesrat und LVR-Dezernent Soziales, offen: „Strukturelle Probleme der einzelnen Werkstatt für behinderte Menschen, die einem vollständigen Angebot für alle Beschäftigten entgegenstehen“, sollen bis zum 21.9. „Lösungsansätze benennen, so dass gemeinsam das weitere Vorgehen abgestimmt werden kann.“
Nach Paragraph 4a dürfen diese Betriebe „ihre Leistungen nur als Vor-Ort-Betrieb erbringen, wenn die räumlichen, personellen und hygienischen Voraussetzungen vorliegen“. Warum also der plötzliche Druck auf die Werkstätten? Will der LVR auf Kosten der behinderten Menschen Mittel sparen? Für Möller wäre das kaum verständlich: „Der LVR gibt ja nicht mehr Geld aus, wenn er weiterhin die Kosten übernimmt“, meint Möller. Das Budget für die Maßnahmen habe der LVR längst beschlossen. Es werden nun lediglich etwas weniger Leistungen erbracht.
Der Leiter der Fliedner-Werkstätten hofft nun auf ein Einsehen des Landschaftsverbands. Dafür gibt es aus seiner Sicht auch Signale: „Die Telefongespräche sind im deutlich freundlicherem Ton als die Schreiben. Es gibt eine Offenheit, nach individuellen Lösungen zu suchen.“ Nur tickt eben die Uhr für eine Einigung und die dann noch umzusetzenden Maßnahmen. Schriftlich zumindest besteht der LVR auf einen „Normalbetrieb“ ab kommenden Montag.