Mülheim. 24-Stunden-Kräfte aus Osteuropa, die auch in Mülheim Senioren daheim pflegen, drohen in Coronazeiten rar zu werden. Viele kommen nicht mehr her.
Gisela H. (100 Jahre alt) hat seit einem Jahr zuhause ein festes Pflegeteam. Valentyna V. aus der Ukraine und Jolanta Z. aus Polen kümmern sich im zweimonatigen Wechsel um die Mülheimer Seniorin. Jetzt allerdings gab es ein Problem: Die polnische 24-Stunden-Kraft kündigte an, sie wolle aus Angst vor Ansteckung mit dem Corona-Virus zum Wechseltermin am 1. Mai nicht kommen. Die Familie von Gisela H. geriet in Aufruhr.
Familien - auch in Mülheim - geraten unter Druck
"Wir haben eine Lösung gefunden", sagt Sebastian Nocon von der Agentur Lebenshilfe24, die die beiden Betreuerinnen vermittelt hat. Denn: "Valentina Z., die Ukrainerin darf momentan nicht in ihr Heimatland zurück, weil Polen die Durchreise nicht erlaubt." Sie habe eingewilligt, länger bei der alten Dame zu bleiben - bis sie wieder ausreisen kann. Die Familie von Gisela H. kann erstmal aufatmen.
"Das ist gut ausgegangen", erklärt Nocon, "aber in vielen Fällen findet sich momentan keine Lösung." Viele osteuropäische Pflegekräfte wollten wegen der Pandemie früher zurück in die Heimat oder eben nicht mehr nach Deutschland kommen. Dafür gebe es mehrere Gründe: 1. Deutschland gelte in Osteuropa als Hochrisikogebiet. 2. Bei der Rückkehr - etwa nach Polen - müssten die Betreuerinnen zwei Wochen lang in häusliche Quarantäne. Außerdem liege das Transportsystem lahm. "Die Kleinbusse, die die Pflegekräfte hin und her bringen, fahren kaum noch", berichtet Sebastian Nocon. Aber auch öffentliche Buslinien passieren die Grenzen nicht mehr, der Flugverkehr - etwa mit Rumänien - ist ausgesetzt.
Nur noch Pflegekräfte für die Bestandskunden
Vermittlungsagenturen wie die Lebenshilfe24, aber auch der Verband für Häusliche Pflege und Betreuung (VHBP) schlagen Alarm. Es könne sein, dass in den nächsten Monaten Zehntausende Pflegekräfte aus Osteuropa in Deutschland nicht mehr zur Verfügung stünden. "Wir sind froh, wenn wir über unsere Partnerorganisationen noch welche bekommen. Bedienen können wir zurzeit nur noch Bestandskunden, Neuanfragen müssen wir ablehnen", so Nocon.
"Noch haben wir Betreuungskräfte", sagt Uwe Späh von der Agentur Promedica Plus. Das liege aber auch daran, dass man anders strukturiert sei. Die polnische Mutteragentur habe zum Beispiel eigene (stets desinfizierte) Busse, um die Pflegekräfte zu transportieren. Zudem bezahle die Firma Sonderzulagen für Kräfte, die jetzt bereit sind, in Deutschland anzutreten. Grundsätzlich gilt: Wer einen Arbeitsvertrag vorweisen kann, darf einreisen. "Es gibt aber Betreuerinnen, die das Risiko scheuen", weist auch Späh auf Einschränkungen hin.
Großes Problem liegt bei illegal Beschäftigten
Das große Problem liegt aber nicht im Bereich der legal angestellten Pflegerinnen. "Sie machen nur zehn Prozent der in Deutschland beschäftigen 24-Stunden-Kräfte aus", heißt es beim VHBP. 90 Prozent sind illegal Beschäftigte, die derzeit nicht einreisen dürfen, weil sie eben keinen Arbeitsvertrag an der Grenze vorweisen können. Manche Betreuerin, die schon illegal in Deutschland tätig ist, fürchtet, hier krank zu werden und die Behandlungskosten vorstrecken zu müssen - und reist lieber heim.
"Viele Familien kommen jetzt aus der Illegalität auf uns zu. Wir können ihnen aber auch niemanden vermitteln", so Sebastian Nocon. Die meisten Seniorenheime oder Kurzzeitpflegeeinrichtungen nehmen aktuell nicht auf. Die Folge: Familien müssen die Betreuung selbst übernehmen. Daniel Schlör vom VHBP stellt deshalb zwei Forderungen: "Pflegekräfte, die bereits hier sind, müssten zum Bleiben ermutigt werden - auch mit einem staatlichen Bonus, wie es ihn in Österreich gibt." (Das ließe sich jedoch nur auf legal angeheuerte Frauen anwenden) Und: "Familien, die jetzt Verdienstausfälle haben, weil sie plötzlich pflegen müssen, sollten entschädigt werden."
24-Stunden-Pflege als dritte Säule der Betreuung
"Unser Pflegesystem ist auf diese Helfer aus Osteuropa angewiesen. Gäbe es sie nicht, würden 100.000 Heimplätze fehlen", sagt Schlör. Mit der von der Politik geduldeten Schwarzarbeit müsse endlich Schluss sein, findet Sebastian Nocon, und erklärt: "Die osteuropäischen Pflegerinnen sind systemrelevant. Sie kümmern sich um hochgradig pflegebedürftige Menschen." Die 24-Stunden-Pflege solle zur dritten Säule neben Heimen und ambulanten Diensten werden, es müsse höhere Pflegezuwendungen für die Familien geben, eine Annäherung an die Finanzierung der ambulanten Pflege. Dann könne sich eine Familie eine legale 24-Stunden-Pflege auch besser leisten.
INFO
Rund 300.000 ältere Menschen werden in Deutschland laut VHBP in häuslicher Gemeinschaft von einer osteuropäischen Pflegerin (Pfleger gibt es kaum) betreut. Legale Beschäftigungsverhältnisse gebe es, so die Lebenshilfe24, rund 35.000.
Wie viele 24-Stunden-Kräfte legal oder illegal in Mülheim arbeiten, ist nicht erfasst. Eine Familie muss für eine legale Kraft laut Sebastian Nocon etwa 2400 bis 2500 Euro im Monat zahlen, sie ist dann aber sozial abgesichert. Einer illegal Beschäftigten zahlt man rund 1400 bis 1500 Euro, muss aber alle Konsequenzen der Schwarzarbeit tragen.