Mülheim. Der Kassenberg war einst die Lederstraße Mülheims. Die Arbeitsbedingungen waren hart. Geblieben sind nur die schmucken Firmenvillen am Ruhrufer.
Manchmal dauert es etwas länger, bis unsere Leserinnen und Leser schreiben. Um so schöner sind Ihre Erinnerungen, die Sie zu den alten Fotos beisteuern. Häufig ergeben sich zu den ersten Angaben Ergänzungen, die eine fast vollständige Erklärung zu den gezeigten historischen Motiven liefern. So ist das auch mit der Postkartenserie zu den Fabrikgebäuden zwischen Ruhr und Kassenberg. Davon hatten wir in den vorangegangenen Folgen zahlreiche Perspektiven aus unterschiedlichen Jahren gezeigt. Viele der Gebäude und Schornsteine stehen nicht mehr. Aber die Erinnerung ist bei alten Mülheimerinnen und Mühleimern noch wach. Dabei kommt heraus, dass die Arbeitsbedingungen in den Betrieben an der Lederstraße alles andere als prima waren.
Frauen fertigten Knöpfe in unhygienischen Verhältnissen
So schreibt uns Inge Grahl (heute Tetera). „Ich wurde im Juni 1948 am Kassenberg 74 (Straße der Lederfabrikanten) geboren und bin dort aufgewachsen. Zum veröffentlichten Foto von links nach rechts: Im Gebäude links vom Schornstein lag der Knopffertigungsbereich der Lederfabrik Karl Abel (Knebelknöpfe). Späterer Inhaber war die Firma Kotzhausen.“
Das Untergeschoss des Gebäudes hatte das Bootshaus MKSF am Kassenberg gemietet. Im Dachstuhl wurden nasse Tierfelle zum Trocknen aufgehängt. „Der Geruch war oft nicht aushaltbar und dicke weiße Maden fielen durch bis ins Bootshaus“, erinnert sich Inge Tetera. „Die Abel‘schen Arbeiterinnen fertigten ihre Knöpfe unter unhygienischsten Verhältnissen. Es gab für circa 20 Frauen ein Klo – erreichbar über den Hof durch offenes Abwasser und dazwischen Heerscharen von Ratten.“
Mehrere Brände im Chemieraum
Der Chemieraum der Firma befand sich im unteren Bereich des Gebäudes. „Ich erinnere mich an mehrere größere Brände“, schreibt die Leserin. „Die Gebäude verliefen als Karree und beherbergten auch die Safefabrik Gisbert, eine Wäscherei, eine Schreinerei und später auch das ,Kino am Kassenberg’“.
Die erste Villa, Kassenberg 76, steht noch, der Schornstein ist weg. „Ich selbst habe ihn nicht mehr im Betrieb erlebt. Er war gefühlt ,ewig’ unser unmittelbarer Nachbar und wurde bereits einige Jahre vor der Landesgartenschau 1992 gesprengt. Er stand im Park der Villa Kassenberg 76 nahe der Durchgangsstraße Kassenberg. Eigentümerin der Villa war die Schwester des Lederfabrikanten Karl Abel mit Hauptsitz der Lederfabrik an der Düsseldorfer Straße/Ecke Heuweg (heute ,Wohnsitz’ des Ledermuseums).“
Wunderschöne Herrenhäuser stehen nebenan
Das wunderschöne Herrenhaus ist auf dem Foto ganz links erkennbar. Die mittlere weiße Villa gehörte ehemals Professor Schulz/Familie Gasters“, erinnert sich Inge Tetera. „Die rechte Villa auf dem Foto ist bis heute wohl im Eigentum der Familie Funke (Lederfabrik) – einst Spezialist für Treibriemen am Kassenberg. Alle drei Villen hatten einen Direktzugang zur Ruhr (Gerbersteig). Die Häuser stehen inzwischen unter Denkmalschutz.“
Weiter erläutert unsere Leserin: „Die vier zusammengebauten Häuser zum rechten Bildrand hin waren dagegen sehr schlicht. Sie wurden im Zuge des Umbaus von Kassenberg und Mühlenberg zur Ruhruferstraße abgerissen. Dazu zählte auch noch das höchstgelegene Gebäude Kassenberg 101. Es stünde heute etwa oberhalb vom ,Ruhrkristall’ auf Höhe des Abzweigs ,Am Bahnhof Broich’.“
Quelle der ehemaligen Ibingbrauerei
Der Straßenverlauf änderte sich. Auch die schmale Fabrikstraße am Ruhrufer entfiel vollends. Zur Müga 1992 entstand der Fußweg Gerbersteig entlang der Ruhr. Der Kassenberg birgt viele Geheimnisse, über die es sich zu berichten lohnen würde. So liegt im Hof der Häuser 17/19 die Quelle der ehemaligen Ibing-Brauerei. In der ehemaligen Produktion sind leider nur noch Fragmente übrig. Und wer weiß schon, dass der Kassenbergs im Steinbruch Rauen (Heuweg) beginnt oder wodurch der Steinbruch sowie die Felsen-Abbruchkante zur Ruhr entstand?“, fragt Inge Tetera.
„Oberhalb auf der Höhe sieht man auf dem Foto die Spitze der evangelischen Kirche an der Wilhelminenstraße, die ehemalige Gastronomie „Zum luftigen Schneider“ (am Hohlweg/Graf-Wyrich-Straße) und die Villa der Familie Steinbruch Rauen an der Felsenstraße“, schließt die Leserin ihre Erinnerungen.
Sie denkt oft an den Kassenberg und hört noch „immer das Brummen der Generatoren im alten Wasserwerk am Wasserbahnhof“ – gegenüber auf der anderen Ruhrseite.