Mülheim. Ringlokschuppen, TAR und Stücke arbeiten unter „Vier.ruhr“ zusammen. Warum das Projekt nun anders ausfällt als geplant und sogar Chancen bietet.
Corona ist nicht nur zerstörerisch – mit dem Virus verbreiten sich auch kreative Theaterformen. Am Raffelberg und am Müga-Park setzen Kulturschaffende die Sämlinge für ein digitales Livetheater.
„Dekameron“ haben das Theater an der Ruhr, der Ringlokschuppen und die Stücke ihre gemeinsame Reihe getauft. Zehn Teile sollen entstehen – frei nach der Novellensammlung von Boccaccio. Jeden Donnerstag um 21 Uhr startet ein Live-Streaming auf www.vier-ruhr.
Freizügig-sinnliche Geschichten helfen, die Isolation zu ertragen
Inhaltlich liegen die Parallelen zwischen dem „Zehn-Tage-Werk“ (Dekameron) um 1350 und dem Jetzt durchaus nahe: Weil im Land die Pest ausgebrochen ist, flüchten zehn Frauen und Männer in ein Landhaus. Um die Zeit der Isolation zu ertragen, erzählen sie sich zehn Tage lang einander Geschichten, die nicht selten sprachlich in einer frivolen Freizügigkeit und Sinnlichkeit schwelgen, die seuchenbedingt entsagt bleibt.
Was die vielen modernen Kulturschaffenden des Ringlokschuppens, der Stücke und des TAR im Hier und Jetzt daraus machen werden? Das muss bis zum Tag des Livetheater-Streamings natürlich ein süßes Geheimnis bleiben. Allerdings verraten die Namen schon viel Gutes: Mit „Signifying Ghosts“ hatte etwa die internationale Tanztruppe Cocoon Dance Company im Ringlokschuppen begeistert, und eigentlich waren sie für ihr neues Stück „Body Shots“ im April angemeldet. Jetzt entwickeln die Tänzer einen Teil für Dekameron – wie der körperliche Tanz und das entkörperlichte digitale Medium zusammengehen, wird am 5. Mai zu sehen sein.
Stücke-Autorinnen schreiben Texte für das Livetheater
Auch das kainkollektiv hat in Mülheim mit einem starken Mix aus Musik, Sprechchor und politischem Theater bereits Akzente gesetzt – zuletzt schauten Fabian Letow und Mirjam Schmuck in „The Golden Age of Extremes“ auf das nationalistisch werdende Europa. Am 28. Mai sind sie mit Dekameron online. Ganz zu Hause im digitalen Medium dürfte sich hingegen Anna Kpok befinden, zumindest hat sie in „realReality“ noch gezeigt, welche Utopien und Tücken im modernen Smarthome stecken. Am 9. Juni blickt sie mit ihrem Brennglas auf Boccaccios Meisterwerk.
Die Stücke beteiligen sich als Dritte im Bunde mit ihrer neu gegründeten Werkstatt an Dekameron. Die Autorinnen Caren Jeß, Mehdi Moradpour und Nele Stuhler schreiben Texte für das Livetheater, möglicherweise tragen sie diese auch selbst vor, deutet Festivalleiterin Stefanie Stein an.
„Wir wollen ein Live-Erlebnis transportieren“
Neue Folgen laufen immer donnerstags
Das Livetheater „Dekameron“ beginnt am Donnerstag, 16. April, um 21 Uhr mit einer Pilotfolge auf dem Youtube-Kanal „vier.ruhr“. Im Wochenrhythmus werden die zehn Folgen jeden Donnerstag ausgestrahlt.
Auf der Homepage www.vier.ruhr gibt’s dazu einen Trailer zu sehen und weitere Infos über alle Beteiligten.
Und natürlich fehlen auch die Großen des Theaters nicht: Philipp Preuss und Roberto Ciulli liefern ihr „Zehn-Tage-Werk“ am 11. Juni ab. Wie werden sich die Meister der Bühne im Virtuellen und ohne sichtbares Publikum schlagen? „Wir wollen ein Live-Erlebnis transportieren“, macht TAR-Sprecherin Jessica Otten den experimentellen Charakter deutlich: In Echtzeit performen die Macher vor der Kamera an verschiedenen Orten, mischen dies vielleicht mit Aufgezeichnetem zu einer digitalen Collage. Die Mülheimer Theater – ohnehin schon immer alles andere als konventionell – gehen abermals neue Wege.
Die „neuen Wege“ waren eigentlich ganz anders geplant, als Schuppen, Stücke und TAR vor mehr als einem Jahr die Theater-Allianz ins Leben riefen und dafür Mittel des Landes beantragten. Ohne Corona wäre die Kooperation vielleicht sogar im „konventionellen“ Denk-Rahmen geblieben. Doch die Quarantäne schuf neue Bedingungen, die die Institutionen nun zu einem völligen Umdenken zwangen.
Für die Stücke-Leiterin Steinberg eine Chance, sich von der Bühne auf das ungewohnte Terrain des Digitalen zu bewegen: „Wir sind alle neugierig, kennen uns hier nicht aus und können uns deshalb ohne Druck ausprobieren. Das ist aus meiner Sicht das Reizvolle.“