Mülheim. Flächen am Ruhrufer in Mülheim-Broich sind seit 200 Jahren Spekulationsobjekte. Einst wichtige Lederstandorte, sind sie jetzt begehrte Wohnlagen.
Wir hatten versprochen, noch einmal auf die Lederfabriken und deren Schornsteine am Broicher Ruhrufer zurückzukommen. Davon existieren aus der Zeit um und nach 1900 mehrere Ansichten. Von verschiedenen Standpunkten aus fotografiert, zeigen sie auch unterschiedliche Perspektiven.
Ihre Erinnerungen und alten Fotos sind gefragt
Wer Erinnerungen hat oder Hinweise zu den gezeigten Bildern geben kann, schickt diese bitte an die WAZ-Lokalredaktion, Eppinghofer Straße 1-3, 45468 Mülheim Ruhr. Mails sind ebenfalls erwünscht an: redaktion.muelheim@waz.de.
Ihre alten Fotoschätze können Sie per E-Mail im JPG-Format an die Redaktion senden oder persönlich bei uns vorbeibringen. Ihre alten Bilder werden im Laufe der Serie in der WAZ veröffentlicht. Vielleicht können andere Leser bei der Einordnung helfen
Die von den Fotografen benutzten Objektive ändern ebenfalls den Blickwinkel. So entstanden Postkarten und farblich nachbearbeitete Ansichten. Letztere wurden manchmal auch retuschiert: Da könnte es sein, dass Postkarten geschönt wurden, etwas hinzugefügt oder entfernt wurde. Auch das Ergebnis dieser Arbeiten – böse Zungen würden Fälschungen dazu sagen – geben Anlass zum Raten und genaueren Hingucken.
Ohne Wasser keine Lederproduktion
Untrennbar mit der Ruhr verbunden ist die Geschichte der Mülheimer Lederfabriken. Viele davon standen am Ruhrufer oder in der Nähe. „Um 1920 erreichte die Lederproduktion in Mülheim ihre Hochzeit. Mit mehr als 50 Lederfabriken war Mülheim Lederstadt Nummer eins in ganz Deutschland“, haben Annett Fercho und Jens Roepstorff vom Stadtarchiv ermittelt.
Bereits mehrere Jahrhunderte zuvor hatten sich die Gerber an den Seitenbächen der Ruhr angesiedelt. Diese flossen schnell, und deren Wasser war besonders rein – hinter dem Einleiten der Gerbreste allerdings nicht mehr. Viele der kleinen Betriebe siedelten sich am Rumbach an, im heutigen Innenstadtgebiet.
Am Broicher Ruhrufer entstand die Lederstraße
Diesen zahlreichen Kleinbetrieben – häufig nur mit zwei bis fünf Mitarbeitern – folgten im Zuge der Mechanisierung größere firmen. Sie bevorzugen Grundstücke am Bühlsbach und dem Saarner Aubach, die bei der Lederfabrik Lindgens zusammenflossen. „An der Grenze von Saarn und Broich entstand in den folgenden Jahrzehnten der Kern der Mülheimer Lederindustrie“, erläutern Fercho und Roepstorff, nachdem sie die Quellen ausgewertet haben.
Der Kassenberg und die Düsseldorfer Straße wandelten sich zu Mülheims Lederstraße, an der sich Lederfabriken und lederverarbeitende Betriebe aufreihten. Bis heute haben sich hier umgenutzte Lederfabriken – Abel, Möhlenbeck und Lindgens (Seton) – teilweise erhalten.
Fabrikanten beschäftigten viele Arbeiter
„Zwischen 1875 und 1907 stieg die Zahl der in deutschen Gerbereien beschäftigten Personen um 10.000 auf 52.000. Die Anzahl der Betriebe mit mehr als 200 Mitarbeitern vervierfachte sich. Die Lederindustrie hatte sich zur drittgrößten Industriebranche in Deutschland entwickelt“, heißt es in der Zusammenfassung des Stadtarchivs.
Dieser Aufschwung der deutschen Lederindustrie hinterließ auch in Mülheim an der Ruhr seine Spuren. In diese Zeit fallen die Gründungen der bekanntesten Mülheimer Lederfabriken: 1861 eröffnete die Lederfabrik Ludwig Lindgens (Broich), nach Coupienne der zweite „Stammvater“ der Mülheimer Lederindustrie. 1864 folgte Abel (Broich), 1868 Funcke (Broich), 1879 Hammann, 1890 Möhlenbeck (Saarn), und im selben Jahr nahm auch die Lederfabrik Rühl (Saarn) ihre Produktion auf. 1924 sollte die Lederindustrie mit über 50 Fabriken ihre Hochzeit erleben.
Regulierung schützt weitgehend vor Hochwasser
Eine der wichtigsten Grundlagen für diese Entwicklung in Mülheim bot die Regulierung der Ruhr. Sie begann Anfang des 19. Jahrhunderts flussaufwärts in Richtung Essen. „Im Bereich Broich und Saarn wurde durch diese Maßnahme das Hochwasserrisiko weitestgehend kalkulierbar. Entlang einer der wichtigsten Verbindungsstraßen ins Umland, am Kassenbergs und an seiner Verlängerung, der Düsseldorfer Chaussee (später Düsseldorfer Straße), entstand großflächig Bauland“, sagen die Stadtarchivmitarbeiter.
Die Parallelen zu heute sind unübersehbar. Heute dient das ehemalige Fabrikland begehrten und teuren Wohnungen am Ruhrufer. Von der einstigen Lederblüte zeugen noch einige Villen am Kassenberg. Die meisten Fabrikgebäude und Schornsteine sind längst abgerissen.