Mülheim. Eine Premiere steht im Theater an der Ruhr in Mülheim an: Die Gruppe Anagoor (Italien) hat ihr Erfolgsstück „Socrate“ ins Deutsche übertragen.

Funktioniert das System Schule noch? Das hinterfragt das Stück „Sokrates der Überlebende/Wie die Blätter“, das am Donnerstag, 16. Januar, im Theater an der Ruhr Premiere hat. Es geht um ein tragisches Ereignis – einen Amoklauf im Unterricht.

Gruppe Anagoor hat schon viele Preise bekommen

Eine italienische Fassung („Socrate“) gibt es bereits, sie war äußerst erfolgreich. Das Theaterkollektiv Anagoor erhielt 2016 sogar den „Premio Rete Critica“ für „die beste italienische Theaterproduktion des Jahres“. Jetzt haben die Theatermacher aus Italien mit deutschen Schauspielern eine deutsche Version geschaffen. Übersetzt wurde der Text von Paola Barbon, Literaturwissenschaftlerin und Lektorin der Uni Bochum.

Text und Inszenierung beruhen auf einem Roman des zeitgenössischen italienischen Autors Antonio Scurati: „Il Sopravvissuto“ (der Überlebende, gibt es nicht auf Deutsch) sowie auf Textpassagen von Platon und von Cees Noteboom. „Aus der sehr persönlichen und berührenden Perspektive eines Geschichts- und Philosophielehrers, der mit seiner Klasse den Tod Sokrates’ bespricht, schildert Regisseur Simone Derai die letzte Unterrichtsstunde vor einem Amoklauf. Ein Schüler richtet am Ende eine ganze Prüfungskommission hin und lässt nur den besagten Pädagogen leben.

Bezug zu Schulmassaker in den USA

Der Stoff ist aktuell und hat einen realen Hintergrund, er bezieht sich auf eine Drama, das sich 1999 in den USA ereignete: das Schulmassaker an der Columbine High School. „Wir haben die Situation übertragen in den italienischen Schulkontext – auch wenn so etwas in Italien Gott sei Dank noch nicht geschehen ist“, berichtet Marco Menegoni, ebenfalls an der Regie beteiligt. Die Rolle des Lehrers übernimmt der Schauspieler Bernhard Glose, acht junge Schüler der Kölner Schauspielschule spielen die Schulklasse.

Die Regisseure Marco Menegoni (l.) und Simone Darei (r.) vom italienischen Theater-Kollektiv Anagoor stellen gemeinsam mit Roberto Ciulli, Intendant des Theaters an der Ruhr in Mülheim, ihr Stück „Sokrates der Überlebende/Was die Blätter
Die Regisseure Marco Menegoni (l.) und Simone Darei (r.) vom italienischen Theater-Kollektiv Anagoor stellen gemeinsam mit Roberto Ciulli, Intendant des Theaters an der Ruhr in Mülheim, ihr Stück „Sokrates der Überlebende/Was die Blätter" vor. © FUNKE Foto Services | Martin Möller

Anders als im Roman, in dem die Gewalttat am Anfang steht und der Lehrer zurückblickt, gipfelt in der Theateradaption das Geschehen im Klassenraum im Amoklauf. „Wir haben hier eigentlich die Struktur der antiken Tragödie nachempfunden, bei der die Katastrophe am Ende steht“, so Derai.

Frage „Warum?“ geht an Publikum

Die Frage nach dem „Warum?“ bleibe am Ende offen, sie werde ans Publikum zurückgegeben, das sich Gedanken machen soll. „Im Kern geht es in unserem Stück um die Frage der Erziehung und Ausbildung von Kindern. Um den Augenblick des Lernens und um die Momente, in dem das Denken reift und der Geist geboren wird“, erläutert Simone Derai. Man behandele philosophische Inhalte innerhalb eines realen politischen Kontextes.

Was ist die Wirkung von Erziehung und Bildung? Die Aufführung hinterfragt in starken Bildern, Choreographien, Filmsequenzen – verbunden mit einer überwältigenden Soundinstallation von Mauro Martinuz – die Möglichkeiten humanistischer Bildung und ein etwaiges Scheitern unserer Kultur. „Das passt in die aktuelle Diskussion über die Bildung. Was für Menschen soll es zukünftig geben? Das Denken wird immer weniger gefördert, das ist der Beginn einer Tragödie. Gegen den müssen wir Widerstand leisten“, sagt Theatergründer Roberto Ciulli.

Matinee und Video-Abend

Eine Matinee zur Premiere gibt es am Sonntag, 12. Januar, um 12 Uhr im Theater an der Ruhr, Akazienallee 61.

Ein Gespräch zwischen Helmut Schäfer, dem künstlerischen Leiter am Theater an der Ruhr, und den beiden italienischen Regisseuren Simone Darei und Marco Menegoni findet dann dort statt.

Am Tag nach der Premiere, also am 17. Januar, lädt die Gruppe Anagoor zum Musik- und Videoabend „Mephistopheles“ im Theater ein (19.30 Uhr). Zur Musik von Mauro Martinuz werden ausgewählte Video-Episoden gezeigt, die für Anagoor-Produktionen entstanden sind.

Von Anagoor, die übrigens schon drei Gastspiele in Mülheim gegeben haben, sei er sofort fasziniert gewesen. „Ich war sicher, dass es da eine Verwandtschaft gibt, was die Auffassung von Theater betrifft“, sagt er. Man habe die Absicht, mit dem unabhängigen Theaterkollektiv nun kontinuierlich zusammenzuarbeiten. „Dieser Theaterabend ist das erste Projekt“, so Ciulli. „Wir wollen vom Gastspiel zum Dialog kommen“, nennt es Simone Derai.