Mülheim. Der Tastsinn der sehbehinderten Andrea Lüling hilft bei der Früherkennung. Beim Mülheimer Unternehmen „Discovering Hands“ lernte sie die Technik.

Andrea Lüling ist gelernte Bürokauffrau und hat ihr Leben lang gearbeitet. Ein Augenleiden, das sich verschlechtert hatte, bedeutete aber schon mit 50 das Ende der früheren Berufstätigkeit der Ratingerin. Doch die verminderte Sehkraft war auch der Beginn eines neuen Weges. Die 53-Jährige ließ sich zur Medizinisch-Taktilen Untersucherin (MTU) ausbilden und hilft nun als ärztliche Assistentin bei der Früherkennung von Brustkrebs, auch in Mülheim.

Sensibilität in den Fingern ist Voraussetzung für die Ausbildung

Das gemeinnützige Mülheimer Unternehmen „Discovering Hands“ bildet blinde und sehbehinderte Frauen wie Andrea Lüling für Tastuntersuchungen der Brust aus. Auch Lüling, die noch zehn Prozent ihrer Sehkraft besitzt, hat einen viel sensibleren Tastsinn als gesunde Sehende. Die Sensibilität in den Fingern sei Voraussetzung, berichtet sie, und das werde auch vor der Ausbildung geprüft.

Die medizinischen Grundlagen und die Tast-Technik hat Andrea Lüling in der firmeneigenen Akademie in Berlin gelernt und in einem Praktikum verfeinert. Seit drei Jahren ist sie als Medizinisch-Taktile Untersucherin tätig, arbeitet in verschieden Praxen in Köln, Hilden, Oberhausen und eben auch in Mülheim, wo sie demnächst vertretungsweise in der gynäkologischen Praxis von Martin Kottmann an zwei Tagen in der Woche eingesetzt wird.

Feiner Tastsinn hilft, Veränderungen im Brustgewebe aufzuspüren

MTU wie Andrea Lüling können laut Studien bis zu 50 Prozent kleinere und bis zu 30 Prozent mehr Tumore ertasten als die Fachärzte. Martin Kottmann demonstriert gern an den unterschiedlich großen Perlen einer Schnur, wie fein der Tastsinn seiner MTU-Mitarbeiterinnen ist, wenn es darum geht, Veränderungen im Brustgewebe aufzuspüren.

Die Praxis Kottmann, die gerade in das neue Ärztehaus am Evangelischen Krankenhaus an der Schulstraße 13 zieht, ist nach eigenen Angaben aktuell die einzige in Mülheim, die eine MTU beschäftigt.

Empfohlen wird die Tastuntersuchung zur Vorsorge einmal im Jahr

Seit April 2017 gibt es in dieser Praxis das MTU-Angebot, das Kottmann als „einen komplementären Teil zur Brustkrebsvorsorge“ ansieht – neben der regelmäßigen Selbstuntersuchung, der Tastuntersuchung des Frauenarztes, der Sonographie per Ultraschall und der Mammografie im Rahmen des Vorsorge-Screenings. Vor allem für jüngere Frauen, die das Mammografie-Screening nicht erfasst, sieht Kottmann die MTU als wichtiges Instrument der Früherkennung. Empfohlen wird die Tastuntersuchung zur Vorsorge einmal im Jahr.

Tag der Menschen mit Behinderung

Der Internationale Tag der Menschen mit Behinderung wird alljährlich am 3. Dezember begangen. Es ist ein von den Vereinten Nationen (UN) ausgerufener Gedenk- und Aktionstag.

Seit dem Jahr 1993 wird am 3. Dezember an die besonderen Probleme von Menschen mit Behinderung, an ihre Würde und ihre Rechte erinnert.

Facharzt Kottmann verschweigt nicht, dass nicht alle gesetzlichen Krankenkassen die Untersuchung bezahlen, die 60 Euro kostet. Dafür nimmt sich Andrea Lüling für ihre Patientinnen gut eine Stunde Zeit. Beim zuvor mit der Praxis vereinbarten Termin lernt man sich erst einmal kennen, füllt den Anamnese-Bogen aus, Andrea Lüling erklärt, wie sie vorgeht. Bei der Untersuchung werden spezielle Taststreifen auf die Brüste geklebt, die MTU ist mit der Patientin im Untersuchungszimmer allein.

Früher hatte sie einen Job, heute hat sie einen Beruf

„Viele Frauen sind sehr aufgeregt, haben Ängste“, weiß Andrea Lüling aus Erfahrung. An ihrer neuen Tätigkeit, die sie 25 Stunden in der Woche nicht nur in Mülheim ausübt, schätzt sie, dass sie nah am Menschen arbeiten kann – und dass sie gebraucht wird. In ihrem alten Berufsleben, sagt Andrea Lüling, sei sie die Sehbehinderte gewesen, habe oftmals den Druck gespürt, nicht genügen zu können. „Früher hatte ich einen Job, um Geld zu verdienen“, sagt sie überzeugt. „Jetzt habe ich einen Beruf.“