Mülheim. Das Bundesverfassungsgericht hat die Sanktionen für Hartz-IV-Bezieher in Teilen für verfassungswidrig erklärt. Das Mülheimer Jobcenter reagiert.

Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, das der Sanktionspraxis der Jobcenter im Hartz-IV-Leistungsbezug engere Grenzen gesetzt hat, kündigt die Mülheimer Sozialagentur an, Betroffenen gegebenenfalls nachträglich Geld auszuzahlen. Sehr viele Langzeitarbeitslose in Mülheim werden vom Richterspruch aber nicht profitieren.

Das Bundesverfassungsgericht hatte entschieden, dass Leistungskürzungen für Hartz-IV-Bezieher, die ihren Mitwirkungspflichten nicht nachkommen, zwar grundsätzlich verfassungskonform sind. Die im Sozialgesetzbuch verankerten Sanktionsregelungen seien jedoch teilweise unverhältnismäßig und bedürften einer Neuregelung durch den Gesetzgeber.

Leistungskürzung darf maximal 30 Prozent betragen

Anke Schürmann-Rupp, Leiterin der Mülheimer Sozialagentur: „Eine Sanktionsverschärfung führt meist zu mehr Problemen, aber keinen Schritt weiter in Richtung Integration.“
Anke Schürmann-Rupp, Leiterin der Mülheimer Sozialagentur: „Eine Sanktionsverschärfung führt meist zu mehr Problemen, aber keinen Schritt weiter in Richtung Integration.“ © FUNKE Foto Services | Martin Möller

Maximal sei eine Leistungskürzung in Höhe von 30 Prozent möglich, urteilte der Erste Senat (Az. 1 BvL 7/16). Auch kassierten die Karlsruher Richter die starre Regelung ein, dass eine von den Jobcentern verhängte Sanktion bislang per se für drei Monate galt. Es müsse möglich sein, die Zeit der Sanktion zu verkürzen, wenn ein Leistungsbezieher sein Verhalten ändere. Auch sieht es das Bundesverfassungsgericht für erforderlich an, Härtefälle gesondert zu bewerten, auch bei Sanktionen von bis zu 30 Prozent.

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Das Urteil gelte zunächst nur für Leistungskürzungen bei Leistungsbeziehern ab 25 Jahren, stellt die Mülheimer Sozialagentur fest. Eben für diesen Personenkreis habe das Gericht eine Entscheidung herbeigeführt. „Inwiefern die vom Gericht aufgestellten Grundsätze für die Gruppe der unter-25-Jährigen Anwendung finden, wird vom Bund geprüft“, heißt es seitens der Stadtverwaltung. „Wir gehen davon aus, dass im Nachgang auch die Sanktionen für U 25-Jährige angepasst werden“, so die Leiterin der Sozialagentur, Anke Schürmann-Rupp.

Jobcenter will alle entsprechenden Sanktionen prüfen

Das Jobcenter der örtlichen Sozialagentur kündigte nun an, alle Sanktionen über 30 Prozent ab dem Zeitpunkt der höchstrichterlichen Entscheidung (5 November 2019) auf 30 Prozent herabzusenken. Alle Leistungsempfänger, die davon betroffen seien, sollen entsprechende Bescheide bekommen. „Kurzfristig“, wie es heißt. Zu Unrecht gekürzte Leistungen würden mit den nächsten Monatszahlungen wieder ausgezahlt. Das Jobcenter betonte, dass betroffene Leistungsbezieher nicht selbst aktiv werden müssten, sich mit Fragen aber an zuständige Mitarbeiter wenden könnten.

Wann Mülheims Sozialagentur Sanktionen verhängt

„Wenn ein Termin versäumt wurde oder gegen die Eingliederungsvereinbarung verstoßen wird, kann grundsätzlich sanktioniert werden“, sagt Sozialagentur-Chefin Anke Schürmann-Rupp. Die Sanktion werde allerdings grundsätzlich nur nach einem Anhörungstermin umgesetzt, bei dem Leistungsempfänger auch darlegen könnten, dass es triftige Gründe für ihr Versäumnis gegeben habe.

Andernfalls wurden Terminversäumnisse bislang zu 10 Prozent sanktioniert, Verstöße gegen die Eingliederungsvereinbarung bei Ü 25 bei der ersten Pflichtverletzung zu 30, bei der zweiten zu 60, bei der dritten zu 100 Prozent. Darüber hinaus griffen auch Kürzungen beim Mietzuschuss.

Auf Nachfrage dieser Redaktion machte Schürmann-Rupp Angaben dazu, wie viele Mülheimer Aussicht haben, von drastischen Sanktionen von mehr als 30 Prozent verschont zu bleiben. Die Zahl ist gering: Stand Ende Oktober hatte der Jobcenter 32 Personen über 25 Jahren das Arbeitslosengeld II um 40 Prozent, 36 Personen um 60 Prozent und 14 Personen ganz gestrichen. Zwei weiteren Mülheimern war nicht nur kein Arbeitslosengeld ausbezahlt worden, sondern zudem der Mietzuschuss gekürzt worden.

Chefin der Sozialagentur: Sanktionsverschärfung führt meist zu mehr Problemen

Sozialdezernent Marc Buchholz hatte schon zu Beginn der Woche auf Statistiken verwiesen, die in der Vergangenheit immer wieder dargelegt hatten, dass Mülheims Jobcenter bei der Sanktionierung „weniger restriktiv vorgegangen“ war als andere Kommunen. Seine Meinung: „Restriktionen helfen nicht, jemanden in Arbeit zu vermitteln.“

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Schürmann-Rupp sieht das genau so: „Eine Sanktionsverschärfung führt meist zu mehr Problemen, aber keinen Schritt weiter in Richtung Integration.“ Daher begrüße die Sozialagentur das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes auch ausdrücklich.

Von 1537 Sanktionen kamen im Vorjahr 560 nicht zum Tragen

Die Chefin der Sozialagentur nannte nun Zahlen: Die Sanktionsquote habe im Jahr 2018 bei 1,9 Prozent aller Leistungsbezieher betragen, Ende Juni habe sie bei zwei Prozent gelegen. Bis zum 29. Oktober dieses Jahres hat das Jobcenter 942 Leistungskürzungen verhängt. 2018 zählte das Jobcenter 1537 Sanktionen. Davon seien aber 560 nicht zum Tragen gekommen, „da die Betroffenen Gründe für eine Pflichtverletzung darlegen konnten, die triftig waren“, so Schürmann-Rupp.