Mülheim. Start des Bücherherbstes: Mülheims Stadtschreiber Lucas Vogelsang liest aus seinem Werk „Ruhrgebiete“ – und zeigt dabei mehr als pure Nostalgie.

Wenn sich am Morgen die lange Blechkarawane der Berufspendler durch das Nadelöhr des Kassenberg zwängt, ist Mira vermutlich schon lange wach. Hat die Inhaberin des Kiosk an der Lederfabrik Lindgens schon die xte Kanne Kaffee aufgesetzt und viele Brötchen geschmiert. Für die meisten Mülheimer ist das Büdchen an der Ecke zum Steinbruch ein Checkpoint, den sie allenfalls aus den Augenwinkeln wahrnehmen, auf dem Weg woandershin. Der Stadtschreiber Lucas Vogelsang hat Mira und der alten Lederfabrik nun eine schöne wie melancholische Ode gewidmet.

Auftakt zum alljährlichen Mülheimer Bücherherbst der Saarner Geschäftsfrauen

In der Buchhandlung von Ursula Hilberath und Brigitta Lange macht Vogelsang mit seinen Beobachtungen am Dienstagabend den Auftakt z um alljährlichen Bücherherbst der Saarner Geschäftsfrauen. Es hat den Journalisten aus Berlin dringend gebraucht, um Geschichten wie diese – über Mira und „den Fischer“ – aus dem Alltag herauszuschälen.

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Sie, Mira, kam in den 70er Jahren aus Jugoslawien in die Ruhrstadt. Der Kiosk gegenüber der Fabrik und allein auf weiter Flur war viele Jahrzehnte ihre sichere Bank: geöffnet von 4 bis 13 Uhr. Bis ihr die Discounter an der Düsseldorfer Straße mit immer früheren Öffnungszeiten auf den Leib rückten

Ruhr-Nostalgie oder Melancholie an der Ruhr?

Und die Lederfabrik dicht machte. „Der Fischer“ ist ihr Hausmeister, bis aus Lindgens ein hippes Wohngebiet am Ruhrufer wird. Und den Kassenberg weiter mit Blechkarawanen füllt. Zum Jahresende soll auch Schicht bei Mira sein.

Lucas Vogelsang schildert beide Figuren mal wie ein altes Ehepaar, mal wie zwei Dinosaurier, die von der Eiszeit eingeholt werden. Ruhr-Nostalgie oder Melancholie an der Ruhr? Mit „das Ruhrgebiet ist ja so grün“, Gruben- und Klanggeschichten könne man den meisten Menschen kaum mehr ein Augenzucken abgewinnen, räumt Vogelsang ein, „bei ‘Strukturwandel’ hat man auch den Rest der Republik verloren“.

Die Geschichte des Ruhrgebiets liegt in den Geschichten der Menschen

Also hat der Stadtschreiber ein Jahr lang die Geschichte des Ruhrgebiets in den Geschichten der Menschen gesucht statt in den Stollen der Zeche Prosper Haniel. Und hat dabei nicht nur gut 16 betrachtenswerte Diamanten wie die Mülheimer Story gefunden, sondern auch schöne Sprachbilder. „Es sind Worte, an denen noch Asche haftet“, nennt Vogelsang etwa die „Kampfbahn Glückauf“ in seinem erzählerischen Rundgang mit Bodo Menze in Schalke. Und „auf Schalke“ – für den Stadtschreiber ist das ein feiner Unterschied, den er – der Borussia-Fan – mit einer präzisen wie emphatischen Feder heraus ziseliert.

Was dem Berliner im Ruhrgebiet aufgefallen sei?, fragt eine Zuhörerin. „Ein Gefühl der Weite, fast amerikanisch“, überlegt Vogelsang, „eine Auto-Region – es spielt sich viel an den Autobahnen ab“. Aber auch „ein Gefühl in der Mitte Europas zu leben“ sei hier zu spüren. „Ruhrgebiete“ hat Vogelsang seinen Band aus 16 Geschichten genannt, den es bald nur an Kiosken zu kaufen geben soll. Im bewussten Plural, denn: „Ich bin unbefriedigter als vorher, weil ich nicht mehr aufschreiben konnte – das ist noch nicht fertig.“

Nächste Lesung bei Hilberath und Lange: Montag, 7. Oktober, 19.30 Uhr, Düsseldorfer Str. 111, Eintritt:12 Euro.