Mülheim. Anne Schwieger hat in Mülheim die erste Trauergruppe im Ruhrgebiet für Geschwister gegründet. Vor sieben Jahren verlor sie ihren Bruder.

Als Christoph Schwieger am 16. Oktober 2012 nicht nach Hause kommt, ist seine Schwester Anne besorgt. Sie und ihr Bruder leben bei den Eltern und wenngleich sie lange erwachsen sind, melden sie sich, wenn sie nicht nach Hause kommen.

Die Familie meldet den 30-Jährigen als vermisst. Das Auto hat kein GPS, wohl aber das Handy. Es wird geortet in der Eifel, auf Luftbildern ist allerdings nichts zu sehen. Am 2. November steht der Nachbar der Familie Schwieger vor der Tür, er ist Polizist: Christoph hat sich mit Kohlenmonoxid das Leben genommen, im Auto sitzend hat ihn die Polizei in der Eifel gefunden. Drei Tage später wäre er 31 Jahre alt geworden.

Erstes Hilfsangebot in Mülheim für Geschwister von Verstorbenen

„Damit hat niemand gerechnet“, sagt Anne Schwieger heute. „Es hat mir den Boden weggerissen.“ Sie habe eher daran geglaubt, dass ihr Bruder umgebracht wurde als dass er sich selbst das Leben nimmt. Die Familie weiß nicht, wie sie damit umgehen soll. Anne Schwieger sucht Hilfe, findet ein Seminar für Geschwister von Verstorbenen. Doch eine Gruppe, die sich regelmäßig trifft, gibt es nicht.

Im Januar dieses Jahres gründet sie eine Selbsthilfegruppe für Geschwister in Mülheim – die erste dieser Art im Ruhrgebiet. Den Begriff Selbsthilfe mag sie eigentlich nicht, Trauergruppe oder Geschwistergruppe ist ihr lieber.

Treffen der Selbsthilfegruppe

Die Selbsthilfegruppe „Erwachsene Geschwister trauern“ hat Anne Schwieger zusammen mit Bodo Fritsche vom Verein „Leben ohne dich“ gegründet.

Sie trifft sich jeden dritten Donnerstag im Monat, das nächste Mal am 15. August, um 19 Uhr in der Diakonie am Eck, Kettwiger Straße 3. (Für das Navi: Hagdorn 1)

Wer teilnehmen möchte, muss sich nicht anmelden. Anne Schwieger freut sich aber über eine E-Mail vorab an anne@lebenohnedich.de.

Einmal im Monat treffen sie sich, sechs bis acht kommen in der Regel, der Jüngste ist 15, der Älteste um die 45. Sie reden, geben sich Sicherheit, alles bleibt vertrauensvoll in der Gruppe. „Egal wie der Bruder oder die Schwester gestorben ist, wir haben alle den gleichen Verlust erlitten“, sagt die 32-Jährige.

Geschwister von Verstorbenen werden oft vergessen

Für die Angehörigen von Verstorbenen gibt es zahlreiche Angebote: für Eltern, Kinder, Partner. „Aber die Geschwister werden oft vergessen“, sagt Anne Schwieger. Es ist etwas anderes, die Beziehung eine besondere. Vieles haben Anne und Christoph als Kinder geteilt, von dem die Eltern nichts wissen durften. Als er die Uni und sie die Schule schwänzte und die Beiden sich in der Stadt trafen.

„Meine Eltern haben ihr Kind verloren“, sagt Anne Schwieger, „aber ich habe meinen besten Freund verloren, den ich kaum gekannt habe“. Denn sie ahnte ebenso wenig wie der Rest der Familie von der psychischen Belastung, die Christoph in den Tod trieb.

Schuld ist ein zentrales Thema der hinterbliebenen Geschwister

In der Gruppe bekommt die Trauer, die auch heute noch präsent ist im Leben von Anne Schwieger, einen Raum. Einen Raum zum Austausch, auch um Dinge zu sagen, die man sich nicht traut, den Eltern gegenüber zu sagen.

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Das Thema Schuld stand zuletzt im Mittelpunkt. Viele Gruppenmitglieder hatten es sich gewünscht, über die Schuld in ihren vielen Facetten zu reden: Hätte ich öfter bei meinem Bruder vorbeischauen sollen? Hätte ich etwas verhindern können? Hätte ich mit meiner Schwester nicht noch gestritten. „Wir reden miteinander, ohne das irgendjemand verurteilt wird“, sagt Anne Schwieger.

Zu Beginn wird meist eine Kerze angezündet, oft hat jemand etwas mitgebracht, über das er sprechen möchte. Zum Beispiel über Dinge, die zum ersten Mal passieren: der erste Geburtstag nach dem Tod des Geschwisterteils, der erste Todestag. Der Zusammenhalt in der Gruppe sei „großartig“. Und auch wenn es viele Mut gekostet hat, als sie das erste Mal teilgenommen haben, sagt Anne Schwieger, „sind nun alle froh, dass sie dabei sind“.