Mülheim. In der „Woche der Nachbarschaft“ wurde in Mülheim diskutiert, wie gute Nachbarschaft funktionieren kann. Reicht das Grüßen und Pakete-Annehmen?
Nachbarschaft gehört zum Leben wie Essen und Trinken. Man kommt um sie nicht herum. Und wie Speisen und Getränke können einem die Nachbarn schmecken oder auch nicht. Was eine gute Nachbarschaft ausmacht, bemühte sich eine Diskussionsrunde in der Buchhandlung am Löhberg herauszufinden, zu der das Netzwerk der Generationen innerhalb der „Woche der Nachbarschaft“ eingeladen hatte.
Grundtenor war, dass sich eine gute Nachbarschaft durch Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft auszeichne. Dazu gehöre das gegenseitige Grüßen wie auch das Pakete-Annehmen für den abwesenden Nachbarn. Im Grunde genommen alles Selbstverständlichkeiten. Oder?
Mehr Streitigkeiten als gute Nachbarschaften?
Alexandra Teinovic kennt aus ihrer Arbeit genügende Beispiele für eine nicht funktionierende Nachbarschaft. „Es gibt viel mehr Nachbarschaftsstreitigkeiten als gute Nachbarschaften“, stellt die Geschäftsführerin des Vereins Mülheimer Nachbarschaft täglich fest. Für die Mülheimer Wohnungsbau (MWB) kümmert sie sich um die Belange von rund 9000 Mietern in den verschiedenen Quartieren der Genossenschaft. „Bei den Streitigkeiten geht es nicht nur darum, dass man sich beschimpft, sondern sich tätlich attackiert“, berichtet Teinovic. Hauptgründe für solche Auswüchse seien Intoleranz und fehlende Lernerfahrungen bei Problemlösungen. Bildung ist in diesem Punkte wichtig, betont der Philosoph Peter Leitzen, der die Diskussion als Moderator leitete: „Wenn man gelernt hat, zuzuhören, sich zu vergewissern, ob man den anderen verstanden hat, und gelernt hat, im Gespräch Konflikte zu lösen, dann sind die Chancen, dass man sich in der Nachbarschaft versteht, größer.“
Viele Ehrenamtliche sind in Mülheim in der Nachbarschaftshilfe aktiv
Jörg Marx, als Sozialplaner im Dienst der Stadt tätig, warnt davor, Nachbarschaft mit Aufgaben der Sozialarbeit zu belasten: „Es gibt einen Auftrag für soziale Arbeit, der liegt bei der Kommune.“ Fehler der Vergangenheit auszubügeln, die in mangelnder Bildung liegen, dürfe nicht den Menschen aufgebürdet werden, die zum Teil ehrenamtlich in der Nachbarschaftshilfe aktiv sind.
Für die Zukunft sieht Marx dennoch eine weitere Belastung auf die in räumliche Nähe wohnenden Mitmenschen zukommen: „Wir leben in einer Stadt, in der gegenwärtig 30 Prozent über 60 Jahre alt sind. Deren Bedürfnisse können von professionellen Diensten zukünftig bei anhaltender Entwicklung gar nicht mehr abgedeckt werden.“ Hinzukomme, dass durch häufige Wohnungswechsel eine Nachbarschaft nicht ausreichend wachsen könne. Vielfach fehle das Interesse am Nächsten wegen eines Mangels an Zeit und beruflichem Stress. „Berufstätige Menschen haben oft sehr wenig Zeit, und in ihrer Freizeit dann auch keine Lust, sich um den Mitmenschen noch zu kümmern“, bemerkt Alexandra Teinovic.
Für viele reiche es eben schon, von einem Nachbarn nicht gestört zu werden.
Berufstätige haben oft zu wenig Zeit für den Nachbarn
„Individualität und Unabhängigkeit sind wichtigere Werte als Hilfsbereitschaft und gute Nachbarschaft“, so Teinovic. Wie kommt es aber im Internet zu immer mehr Nachbarschaftsseiten? Jörg Marx sieht in dem Trend eine falsche Auffassung von nachbarschaftlicher Hilfe: „Nachbarschaft darf und kann man nicht funktionalisieren.“ Im Vordergrund stehe dort nicht die menschliche Nähe, sondern „sich den Nachbarn zu grapschen, damit er etwas für einen tut.“
Alexandra Teinovic stimmt dem zu: „Es ist viel erfolgreicher, wenn Menschen sich sehen und direkt begegnen, als solche Plattformen zu benutzen.“