Mülheim. Der 32-jährige „Titelverteidiger“ erhält für „Atlas“ sowohl den mit 15.000 Euro dotierten Preis der Jury als auch den Publikumspreis.
Im Foyer und bei Gesprächen mit Zuschauern wurde bei den Stücken seit einigen Tagen immer nur ein Name als Favorit gehandelt. Nicht etwa der, der bereits mehrfach ausgezeichneten Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, sondern der des Vorjahressiegers: Thomas Köck. Er gewann am Ende erneut den Mülheimer Dramatikerpreis mit einem deutlichen Ergebnis.
Die fünf Juroren, die am Samstag gute zwei Stunden lang über die sieben Texte im Wettbewerb diskutierten, haben von der Festivalleitung allerdings einen strengen Maulkorb auferlegt bekommen. Sie dürfen sich zu den Stücken nicht äußern und untereinander bestenfalls über das Wetter oder andere Banalitäten sprechen. In der Schlussrunde der Juroren war die Entscheidung für „Atlas“ dann mit 4:1 erfreulich klar. Ein ernsthafter Konkurrent war nicht zu erkennen.
Enis Maci wird Nachwuchsautorin des Jahres
Es herrschte unter den Juroren große Sympathie für Enis Maci, die wie Köck bei der Kritikerumfrage von Theater heute zur Nachwuchsautorin des Jahres gekürt wurde. Am liebsten hätte Stephan Reuter, Sprecher des Auswahlgremiums, den Preis zwischen den beiden jungen Autoren geteilt, aber bei der Entscheidung votierte er eindeutig für den „Titelverteidiger“, den er zuvor in den höchsten Tönen gelobt hatte.
Natürlich fiel auch der Name Jelinek. Reuter ist ihr, wie er erzählt, seit Jahren in Hassliebe verfallen. „Ich muss sie lesen und frage mich gleichzeitig, warum quält sie mich so?“ In einigen Momenten würde er am liebsten den Text in die Ecke werfen, in anderen schwärme er dann von einer Offenbarung. Aber er würde ihr lieber einen weiteren Nobelpreis wünschen als ihr für „Schnee Weiß“ den Dramatikerpreis zu verleihen. Es ist eben nicht der stärkste Text der 72-Jährigen, wie andere Juroren befanden.
Flammendes Plädoyer für Köck
Ein flammendes Plädoyer für Köck, dessen Stück von Philipp Preuss am Theater Leipzig kongenial inszeniert wurde, hielt Patricia Nickel-Dönicke, die noch Chefdramaturgin in Oberhausen ist, aber im kommenden Jahr als Schauspielchefin nach Luzern wechselt. Sprachlich, inhaltlich, emotional und formal zeigte sich die 40 Jahre alte gebürtige Potsdamerin fasziniert. Sie sprach von starken Bildern, Räumen für Fantasie und der thematischen Neugierde, die Köck wecke und seiner großen Musikalität.
Virtuos verknüpft der Autor in „Atlas“ deutsche und vietnamesische Geschichte und reflektiert über Zeit und Geschichte. Eine Familie wird Opfer der Zeitläufte. Als Boatpeople gelangt die eine in den 70er-Jahren in den Westen und die totgeglaubte Tochter als Vertragsarbeiterin in den 80er-Jahren in den Osten der Republik. Dass bei einem solchen Thema an keiner Stelle ein moralischer Zeigefinger sichtbar werde, ist für Edith Draxl eine ganz große Leistung. Preuss arbeitet derzeit übrigens an seiner dritten Inszenierung am Theater an der Ruhr.
Bezug zur Gegenwart wird vermisst
Nach den Stücken ist vor den Stücken
Die zwölf Aufführungen der 44. Theatertage besuchten über 3500 Zuschauer. Damit lag die Auslastung bei 98 Prozent. Die Preisverleihung ist für Sonntag, 23. Juni, geplant. Schon am Wochenende kam das Auswahlgremium zu seiner ersten Sitzung zur Vorbereitung der 45. Theatertage zusammen.
Neue Texte wurden besprochen, zu den auch Arbeiten von Wolfram Lotz und Ferdinand Schmalz zählen dürften. Dem Gremium gehören mit Christine Dössel (Süddeutsche) und Eva Behrendt (Theater heute) zwei neue Mitglieder an, die Franz Wille und Cornelia Fiedler ersetzen.
Die einzige Gegenrede hielt schließlich der Journalist Falk Schreiber, der „Atlas“ schon überraschend in der ersten Runde zu den drei Texten zählte, die für ihn am wenigsten preisverdächtig seien, obwohl er den genannten Stärken dann doch weitestgehend zustimmte. Er vermisste einen Gegenwartsbezug und stieß damit auf Ablehnung. Der Bezug zur aktuellen Flüchtlingssituation schwinge jeden Augenblick mit, hielt ihm Draxl entgegen. Dazu reicht im Zusammenhang mit den Boatpeoplen, die Mahnung, nie wieder dürfe sich so etwas wiederholen. Da sei ein Fingerzeig auf die aktuell im Mittelmeer ertrinkenden Flüchtlinge nicht nötig.
Ziemlich eindeutig fiel die Trennungsrunde aus: Mit klaren Mehrheiten wurde „Der Westen“ von Konstantin Küspert, „Die Abweichung“ von Clemens Setz und „Disco“ von Wolfram Höll aussortiert. Auch „Wonderland Ave“ ernte viel Kritik.
Doppelsieg bislang nur einmal im Jahr 2007
Publikum und Jury liegen oft weit auseinander. Die deutlichste Abweichung gab es bei der Publikumsstimme beim Westen. Küspert kam mit 1,8 knapp vor Enis Maci auf Platz zwei. Mit einer Traumnote von 1,4, was auch im langjährigen Vergleich ein Superwert ist, wurde Köck Sieger. Ein solcher Doppelsieg gelang bislang nur Rimini-Protokoll 2007 mit „Das Kapital“.