Mülheim. Grünen-Chef Robert Habeck war am Mittwoch zu einer Stippvisite in Mülheim. Er sagt: Den jungen Leuten sei nichts mehr vorzugaukeln.
„Tach!“ – Robert Habeck hat das Norddeutsche kultiviert: trocken, kurz, freundlich distanziert. Das dunkelblaue Hemd ist hochgekrempelt bis knapp unter die Ellenbogen, Rucksack. Fünf Minuten hat sein Zug aus Essen am Mittwochmittag Verspätung, der Grüne Bundesvorsitzende kommt gleich zur Sache: Handyfoto mit Leihfahrrad am Dieter-aus-dem-Siepen-Platz, hoch zum Radschnellweg in Richtung Ringlokschuppen.
Die symbolträchtige Kulisse versuchte schon die grüne Ex-Schulministerin Sylvia Löhrmann zur NRW-Wahl für ihre Politik zu nutzen. Damals nicht erfolgreich. Habeck steht auf der frisch eingeweihten Eisenbahnbrücke, wehende Haare, schaut nachdenklich auf das Wasser, Ruhrauennatur, Sonne – mehr geht nicht. „Superwichtig“ sei der RS1, sagt der Chef der Grünen. Das ist nicht einmal eine Floskel: Ein Radweg in Schleswig-Holstein brachte den 49-Jährigen um 2002 zu den Grünen. „Der ist bis heute nicht gebaut“, meint Habeck verschmitzt.
Habeck wirbt im Ringlokschuppen vor 110 Gästen für die EU-Wahl
Für nicht wenige Mülheimer und vor allem Mülheimerinnen ist der Grüne Parteivorsitzende ein Sympathieträger. Im Ringlokschuppen, wo er am Mittwochmittag vor gut 110 Gästen für die Europawahl und die Grünen wirbt – in dieser Reihenfolge trumpft Habeck mit Sachlichkeit und viel Selbstkritik auf.
Dabei schwimmt seine Partei gerade auf einer „Grünen Welle“: „Meine Generation hat es verlernt, politische Entscheidungen historisch einzuordnen“, kritisiert der grüne Politiker das Reden und Denken „in Spiegelstrichen“ seiner Zunft. „Es ist uns nicht gelungen, ein historisches Bewusstsein zu entwickeln.“
„Meine Generation hat nicht gesehen, wie politisch die junge Generation ist“
Auch an den Grünen seien Bewegungen wie Fridays for Future vorbeigegangen, „meine Generation hat nicht gesehen, wie politisch die junge Generation ist. Wir können jungen Leuten nicht mehr vorgaukeln, dass wir eine erfolgreiche Politik für 2040 machen. Sie wollen wissen, was macht ihr 2020? Wie konnten wir Grünen das nicht sehen?“
Zuhören, andere nicht schlechtreden, nicht auf rechten Populismus reagieren, die eigene Position darstellen – angesichts der lauten Rechten hat das ,Rezept’ des Bundeschefs der Grünen viele Andersdenkende angezogen. Allein in Mülheim stiegen die Mitgliederzahlen von 100 auf 150: „Man redet wieder über Politik, man ist auf der Suche in einem Geist des Optimismus“, meint der Grüne.
Das Exportland Deutschland sieht Habeck in besonderer sozialer Verantwortung
Ob der Geist des Optimismus sich auch in Europa durchsetzt? Habeck – wie viele andere – sieht die EU-Wahl am 26. Mai als eine, die nicht nur über einen Rechtsruck in der Unionentscheidet, sondern auch über die Frage, wie man „transnationale Probleme lösen kann, etwa Amazon besteuert“.
Oder das soziale Ungleichgewicht zwischen den Ländern der EU löst. Das Exportland Deutschland ziehe seine Vorteile aus der Wirtschaftsgemeinschaft, trage aber auch soziale Verantwortung: „Wir können aber nicht sagen, wir müssen für jeden Euro, den wir zahlen, auch 90 Cent zurückbekommen.“ Das dürfte nicht jedem schmecken.
„Denken Sie darüber nach, welche Partei ihre Ideale verkörpert“
„Warum soll man die Grünen wählen?“, fragt eine junge Zuschauerin. Dem Grünen Bundesvorsitzenden scheint die Einladung zur unverblümten Parteiwerbung Kopfzerbrechen zu machen, „wahrscheinlich bin ich deshalb ein schlechter Vorsitzender. Denken Sie darüber nach, welche Partei ihre Ideale verkörpert – dann können Sie am Sonntag nichts falsch machen.“