Mülheim. Das Gymnasium Broich hat 2018 den „Schrei nach Liebe“ gesungen. Lehrer Seydi Güngor beschreibt, in welchen Momenten es dennoch heikel wird.
Noch immer liegen Flyer auf dem Schreibtisch von Seydi Güngör im Lehrerzimmer vom Gymnasium Broich. „Mann muss etwas tun, und zwar heute noch!“ – dies ist einer von acht Sprüchen, um ein Zeichen gegen Rechts zu setzen. Das tat die Schule, als 900 Schüler und ihre Lehrer gemeinsam das Lied „Schrei nach Liebe“ gesungen haben und die Flyer verteilten. Die Aktion zog weite Kreise. Doch im Alltag, auch in der ausgezeichneten Schule ohne Rassismus, kommt es immer wieder mal zu kleinen rassistischen Äußerungen. Weshalb der Lehrer dafür sensibilisieren möchte.
„Wir verstehen unsere Auszeichnung als Schule ohne Rassismus nicht als Reinheitsmerkmal, sondern als Verpflichtung, gegen Rassismus vorzugehen. Dass es ihn nicht gibt, könnte niemand behaupten“, stellt Güngör klar. Er hat türkische Wurzeln, ist in Wanne-Eickel aufgewachsen und kennt Spannungen, zu denen es im Alltag kommen kann – auch etwa auf dem Schulhof oder in der Sporthalle. „Wir wollen daher die Schüler sensibilisieren, wenn sie eine ethische Grenze überschreiten“, erklärt der 40-Jährige, der sich freiwillig gemeldet hat, Aktionen im Rahmen der Auszeichnung zu organisieren, die im Optimalfall nachhaltig wirken.
Zeitzeuge berichtet vom Nationalsozialismus
Der Schrei nach Liebe erreichte viele. „Die Schüler denken an die Aktion, wenn sie das Lied hören. Sie war noch lange Thema“, erzählt der Lehrer, der Sport und Geschichte unterrichtet. Im Nachgang wurden positive und negative Reaktionen im Unterricht besprochen und der Zeitzeuge Sally Perel berichtete in der Aula vor 400 Schülern von seinen Erlebnissen aus der Zeit des Nationalsozialismus.
Aktionen mit allen Schülern gebe es nicht oft. Als in Bottrop mit Prosper Haniel am 21. Dezember die letzte Zeche im Ruhrgebiet schloss, hatte der Lehrer erst die Idee, mit allen das Steigerlied zu singen – auch, wenn dies nichts mit Rassismus zu tun hat. Die Idee kam ihm allerdings zu spontan, weshalb sie nicht umgesetzt worden ist. Es geht ihm darum, Anlässe aufzunehmen und gemeinsam Abwechslung in den Schulalltag zu bringen.
Böse Kommentare im Unterricht
Dort gebe es auch im Unterricht immer mal wieder rassistische Kommentare. Die würden die Lehrer auch nicht komplett unterbinden können. Aber durch ruhige Ansprache und vernünftige Hinweise könnte man die Schüler in die richtige Richtung lenken. Güngör sieht auch das als eine Aufgabe der demokratischen Erziehung an. „Ich verstehe mich allerdings nicht als Missionar“, betont er.
Er hat zwei Beispiele parat. Vor dem Sportunterricht unterhielten sich Schülerinnen über eine Diskothek. „Eine sagte dann, dass sie nicht in so eine Türkendisco geht. Sie merkte gar nicht, dass sie das Wort benutzte, ihr wurde es erst ein paar Sekunden später klar, dass ich es auch gehört habe. Ich habe sie erst nach dem Unterricht ganz in Ruhe angesprochen“, so Güngör. Es komme darauf an, bei der Wortwahl vorsichtig und überlegt zu agieren, ohne jemanden dabei zu verletzen oder eventuell ungewollt in eine Ecke zu schieben.
Sport verbindet nicht immer nur
Auch wenn Sport verbindet und oft Nationalitäten zusammenführt, würden laut Güngör auch auf dem Fußballfeld oft Konflikte ausgetragen. „Trainer stiften dazu an, Spieler von türkischen Mannschaften zu provozieren, damit sie schneller eine Karte bekommen“, weiß er aus eigener Erfahrung.
Ob Mülheim ein Rassismus-Problem hat, könne er nicht beurteilen. „Ich kenne viele, die sich vor andere stellen würden. Die Gesellschaft ist im Wandel, aber die Lage wird auch durch neue populistische Kräfte in Deutschland oder auch der Türkei zum Beispiel zugespitzt“, sagt Güngör. In seinen Augen sollte man jeden erst kennenlernen, bevor man zu schnell mit Begriffen urteilt.
>>>Von Stolpersteinen zu einem Flickenteppich
Das Gymnasium Broich trägt seit dem Jahr 2013 den Titel „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“. Seitdem gab es einige Aktionen, um auf Probleme aufmerksam zu machen. Nach einer Projektwoche wurden an der Duisburger Straße beispielsweise Stolpersteine verlegt.
Im September 2018 folgte dann auf dem Schulhof am Gymnasium mit 900 Schülern der Schrei nach Liebe, das bekannte Lied von der Band „Die Ärzte“. Dazu hielten Schüler ein selbst gestaltetes Transparent mit den Begriffen Gemeinschaft, Toleranz und Vielfalt aus dem Fenster.
Als nächste Ideen sind ein Konzert in der Schulaula mit Musik aus aller Welt sowie das Erstellen eines Flickenteppichs im Gespräch. Auf dem Teppich könnten Merkmale, Begriffe oder Flaggen aus allen Ländern oder Kulturen zusammengebracht werden. Termine stehen noch nicht fest.