Mülheim. . Die Schauspielerin trägt aus den Aufzeichnungen Astrid Lindgrens vor. Das zeigt die zutiefst menschliche Haltung der berühmten Kinderbuch-Autorin.
Astrid Lindgren machte sich die Welt, wie sie ihr gefällt – allerdings nur in ihren Kinderbüchern. Ihre privaten Aufzeichnungen während des zweiten Weltkriegs sprechen eine deutlich andere Sprache.
Schauspielerin Eva Mattes lieh am Freitagabend in der Realschule Broich der Autorin Lindgren – und nicht ihrer Figur Pippi – ihre Stimme. Eine Lesung voller Melancholie, bewegender Musik und bemerkenswertem Tiefgang. Und dazu gehört zweifelsohne die zutiefst menschliche, emphatische Haltung der berühmten Schwedin, die Mattes einfühlsam und doch ohne Pathos vermittelt.
Arbeit im Nachrichtendienst
Schon 1940 trat Astrid Lindgren ihre Arbeit in der Abteilung für Briefzensur des schwedischen Nachrichtendienstes an. Ein Jahr zuvor – mit Ausbruch des Krieges – begann sie ihre Aufzeichnungen: „Oh! Heute hat der Krieg begonnen. Niemand wollte es glauben. Über allem und allen liegt eine furchtbare Beklemmung.“ Vom Schreibtisch aus und im vom Kriegsgeschehen nahezu ausgenommenen Schweden betrachtete Lindgren das furchtbare Schlachten, die Bombenkriege über London wie Berlin.
Ihre Perspektive? Trotz räumlicher Abstraktion und vergleichsweisen Wohlstands eine hochempfindsame, mitfühlende. Vor allem das Schicksal der Kinder und der jüdischen Deutschen beschäftigte sie, und eine tiefe Sehnsucht nach Frieden.
Eva Mattes singt „Lili Marleen“
Eva Mattes und ihr Musikensemble mit Jakob Neubauer am Akkordeon und Irmgard Schleier am Klavier greifen diese Kriegswirren gekonnt musikalisch auf. Neubauer steuert das „Schifferklavier“ mal scharf und hektisch wie ein Getriebener, mal langsam und melancholisch zwischen den Tagebucheinträgen hindurch. „Lili Marleen“ singt Eva Mattes strophenweise in verschiedenen Sprachen und wandelt auf einfache wie geniale Weise den deutsch-sentimentalen Kriegsschlager zu einem Symbol für alle Opfer der nationalsozialistischen Barbarei. Bewegend greifen die Musiker auch Stücke jiddischer Liedkultur auf – „Shtiller, shtiller“ des Dichters Shmerke Kaczerginski ist eine weitere Verbeugung vor denjenigen, die in die Konzentrationslager und Ghettos deportiert wurden. Ebenso gedenkt der Tango „Youkali“, geschrieben von Kurt Weill im französischem Exil, dem Widerstand und der Utopie einer besseren Welt. „Die Deutschen sind pflichtbewusst und eselig genug, für ihren Führer zu sterben“ – das Treiben der Nazis verurteilte Astrid Lindgren aufs Schärfste, ihre große Empathie machte jedoch selbst angesichts des barbarischen Wütens deutscher Soldaten im Osten nicht vor den Menschen halt: „Ich habe Mitleid mit den Deutschen, auch wenn die Gestapo ausgerottet werden sollte. Es gibt bestimmt auch viele anständige Deutsche, es kann gar nicht anders sein“, schreibt die Autorin 1943 ins Tagebuch, angesichts der verzweifelten Lage der in Stalingrad eingekesselten deutschen Soldaten.
Scheinbar heile Natur in Schweden
Lindgren selbst kontrastiert die Schreckensnachrichten immer wieder mit Schilderungen der blühenden, scheinbar heilen Natur in Schweden, und gibt damit ihrer großen Friedenssehnsucht einen Ort, der sich später unter anderem in ihren Geschichten aus Bullerbü niederschlägt.
>>> MATTES GAB EINST PIPPI LANGSTRUMPF IHRE STIMME
Den Abend mit Eva Mattes, Jakob Neubauer und Irmgard Schleier veranstalteten die Buchhandlung Hilberath und Lange sowie der Verein Realkultur e.V.
Wäre eine anarchische Pippi Langstrumpf ohne den zweiten Weltkrieg denkbar gewesen? Eva Mattes, die in jungen Jahren die Seeräubertochter fürs deutsche Publikum einsprach, ließ den Abend mit ihr ausklingen: „Pippi geht zur Schule“ – aber nur, weil es dort Weihnachtsferien gibt.