Mülheim. In der MEO-Region hat die IG Metall eine neue Führungsriege. Ein Interview über schrumpfende Industrien, Haustarifverträge und Mitgliederschwund.
Stadtgrenzen spielen bei der IG Metall künftig keine Rolle mehr. Seit dem 1. Juli arbeitet die Gewerkschaft, die in Mülheim 8500 Mitglieder hat, unter einer gemeinsamen Führung in den Städten Mülheim, Essen und Oberhausen zusammen. Ein Gespräch mit dem neuen Geschäftsführer Jörg Schlüter und Kassierer Markus Ernst, die die Geschicke der Gewerkschaft in der Region jetzt gemeinsam lenken.
Warum dieser Schritt, der einer stark in den Städten verwurzelten Gewerkschaft doch sicher nicht leicht fällt?
Jörg Schlüter: Wir reagieren damit ganz klar auf den Strukturwandel in der Region, der Industriearbeitsplätze gekostet hat und die IG Metall Mitglieder. Wir haben zwar in letzter Zeit wieder mehr Eintritte als Austritte, aber die Sterberate unter den Mitgliedern gleichen wir nicht aus. Mit dem Strukturwandel hat sich außerdem unsere Arbeit verändert. Früher haben Kohle, Stahl und Schwerindustrie die Region geprägt. Heute sind es die Dienstleistungsbranche und der IT-Sektor. Auch der Arbeiter im Blaumann, für den die IG Metall immer sinnbildlich einstand, hat sich verändert. Die Probleme der Gewerkschaft in den einzelnen Städten sind gleich gelagert, deshalb kooperieren wir.
Markus Ernst: Man muss da nur an den Kfz-Bereich denken. Heute muss der Mitarbeiter dort erst mal seinen Laptop anschalten, bevor er mit seiner Arbeit beginnt. Diese Entwicklungen bleiben auch nicht ohne Folgen für uns.
Inwiefern?
Schlüter: Wir müssen uns ebenso spezialisieren, gerade wenn wir in zukunftsfähigen Branchen neue Mitglieder gewinnen wollen. Die Industrie alleine gibt es so nicht mehr. Und unsere Arbeit ist in den vergangenen Jahren deutlich umfangreicher geworden.
Ernst: Das wird zum Beispiel im Handwerk deutlich: Vor zehn Jahren hat die Kfz-Innung die Verhandlungen aufgekündigt. Seither führen wir in den drei Städten in 13 Betrieben regelmäßig Haustarifverhandlungen. Das kostet Zeit.
Wie fangen Sie das auf?
Schlüter: Ich bin überzeugt, dass uns das nur noch gelingen kann, wenn wir städteübergreifend zusammenarbeiten. Bislang kümmerte sich in jeder Stadt jeweils ein Gewerkschaftssekretär um die Kfz- Branche. Künftig wird nur noch ein Kollege diese Betriebe in allen drei Städten betreuen. Er kann sich in seine Materie besser vertiefen, die anderen Kollegen in anderen Bereichen. Damit erhoffen wir uns auch, dass die Betreuung der Mitglieder in den Betrieben intensiver wird. Wir müssen wissen, welche Probleme sie bewegen.
Welche Probleme sind es, die Ihre Mitglieder bewegen?
Schlüter: Der Fachkräftemangel wird spürbarer. Die Mehrbelastung eines jeden Einzelnen in den Unternehmen nimmt zu. Thema Nummer eins in Betrieben sind daher die Arbeitszeiten.
Ernst: Unbezahlte Überstunden, flexible Einsatzzeiten zulasten der Mitarbeiter – solchen Entwicklungen wollen wir einen Riegel vorschieben. Denn Mitarbeiter wünschen sich Sicherheit und Planbarkeit, auch bei der Arbeitszeit.
Sie sprachen bereits Facharbeitermangel an. Andererseits sind noch viele Lehrstellen unbesetzt. Wie passt das zusammen?
Ernst: Viele Firmen haben sich noch keine Gedanken darüber gemacht, ihre Anforderungen an die Auszubildenden zu überdenken. Über den Fachkräftemangel zu klagen ist schließlich einfacher, als sich selbst mal zu hinterfragen. Gerade kleinere und mittlere Unternehmen sollten viel stärker kooperieren und außerbetrieblich Weiterbildungen für die Azubis anbieten. Das wäre vor allem im Handwerk sinnvoll.
Schlüter: Es muss das Bestreben da sein, die Ausbildungskapazitäten auszubauen. Wissenstransfer, wie wir ihn brauchen, um dem Fachkräftemangel zu begegnen, findet nicht statt, genauso wenig wie eine gemeinsame Personalplanung über mehrere Jahre. Manches Unternehmen hat seine Anforderungen an Bewerber auch zu hoch geschraubt.
Die betriebliche Ausbildung verliert bei Jugendlichen an Attraktivität. Eine Entwicklung, die die IG Metall sorgenvoll stimmen sollte...
Ernst: Die Arbeitgeber haben es in der Hand, attraktive Ausbildungsplätze mit entsprechender Bezahlung anzubieten. Früher war es Konsens, die Tarifverträge anzuwenden. Heute nehmen es zum Beispiel die Innungen im Handwerk damit nicht mehr so genau, wie wir im vergangenen Jahr aufdecken konnten.
Schlüter: Generell merken wir, dass die Jugendlichen heutzutage den Wert eines Tarifvertrages gar nicht mehr kennen. Auch diese Aufklärungsarbeit müssen wir stärker leisten, wenn wir uns dieses Gut erhalten wollen.
Mit Blick auf Mülheim tun sich einige Baustellen auf: Siemens, die Hütte, im Vergleich zu den Nachbarstädten haben wir hier noch viel produzierendes Gewerbe.
Schlüter: Eine richtige Langfristplanung mit Sicherheit gibt es nicht. Darum bange ich. Bei Siemens müssen wir abwarten, wie die Abbauszenarien aussehen. Im Grund sind das Konzernentscheidungen, da weiß man nicht, was noch kommt. Häufig geschehen Kürzungen ja ohne wirtschaftlichen Druck. Bei Siemens läuft es ja, der Markt ist da. Ein Unternehmen hat auch Verantwortung, „Mensch vor Marge“ muss gelebt werden. Bei der Hütte wird die Situation allmählicher stabiler.
Welche Schwierigkeiten sehen Sie außerdem noch für die Betriebe vor Ort?
Schlüter: Die Herausforderungen in der Stahl-Branche betreffen die IG Metall besonders. Die Stahlbetriebe in der Region werden von Welthandelsbeschränkungen stark belastet. Die Erwartungshaltung der Belegschaft nach einer Beschäftigungssicherung werden die kommenden Tarifverhandlungen prägen. Dort, wo es schon keine Tarifbindung mehr gibt, haben wir bereits erfolgreich Haustarife verhandelt, auch in Mülheimer Unternehmen.
Als industriepolitische Stimme hat man die IG Metall in Mülheim in den vergangenen Jahren kaum wahrgenommen. Wird das wieder mehr?
Schlüter: Wir brauchen die Gewerkschaften als Pendant, als Gegenmacht, und auch wieder eine Sozialpartnerschaft mit den Unternehmen und der Politik. Die IG Metall wird in ihrer Position wieder mitwirken können. Was wir nicht brauchen, ist Tarif-Folklore.
Was ist die Digitalisierung aus Ihrer Sicht – Fluch oder Segen? Mülheim ist dadurch, dass es hier noch viel produzierendes Gewerbe gibt, besonders betroffen.
Schlüter: Es gibt heute andere Arbeitsabläufe, die Aufgaben sind anders verteilt als früher, es gibt mehr Team- oder Gruppenarbeit. Das muss kein Nachteil sein. Dass die Deindustrialisierung in Mülheim noch nicht so wie in anderen Städten stattgefunden hat, ist ein Vorteil. Hier geschieht noch Wertschöpfung. Sorgen macht mir eher das Crowdworking, bei dem Arbeitsprojekte weltweit ausgeschrieben werden und der Günstigste den Zuschlag bekommt. Das ist nicht vereinbar mit unseren hiesigen Vorstellungen.
Zu den Personen
Jörg Schlüter ist neuer Bevollmächtigter und Geschäftsführer der IG Metall MEO (Mülheim-Essen-Oberhausen). Der 49-Jährige ist gelernter Stahlbauschlosser. Seit 2002 arbeitet er hauptamtlich bei der IG Metall.
Markus Ernst, 52 Jahre, ist zuständig für die Handwerksarbeit. Seine Ausbildung absolvierte er als Rohrinstallateur bei den Deutschen Babcock-Werken. Seit 24 Jahren ist Ernst bei der IG Metall hauptamtlich tätig.