Mülheim. . Ingrid Fiedler kümmerte sich um die Kleinsten in der Flüchtlingsunterkunft. Einer sechsköpfigen Familie hilft sie, in Mülheim Fuß zu fassen.

Skeptisch waren nicht nur viele Saarner im Dorf, als 2015 die ersten Flüchtlinge jenseits des Damms auf dem Kirmesplatz untergebracht wurden. Viele Vorurteile gab es: Ein „funktionierender Stadtteil“ werde „systematisch zerstört“, die Ruhrauen und Sozialsysteme belastet. Manche Sorge wurde breitgetreten. Auch im Bekanntenkreis von Ingrid Fiedler herrschten gemischte Gefühle. Und doch war die Wahlsaarnerin eine von denen, die ihre Hand als erste ausstreckten, um die Menschen willkommen zu heißen.

„Gerade die Kinder waren arm dran. Es gab keine Räume für sie, keine Spielsachen“, erinnert sich Fiedler. Einen Etat dafür gab es nicht, so sammelten sie und Gigi Merten Geld für Spielsachen zusammen, streckten aus eigener Tasche vieles vor. Ein Kasperle-Puppenspiel hatte die Saarnerin noch auf dem Schober. Und so gab Fiedler – die selbst in einer Theatergruppe spielt – bald ihre erste Vorstellung im Flüchtlingsdorf vor gut 30 Kindern: „Das hat mich sehr bewegt. Selbst die ‘Rabauken’ waren wie verzaubert.“

Prinzip der Nächstenliebe ist Ehrenamtlerin wichtig

Das Ehrenamt ist der Künstlerin wichtig. Bevor sie mit ihrem Mann Alfons nach Saarn zog, half sie im Oberhausen dabei mit, die Tafel aufzubauen. „Für mich ist das Prinzip der Nächstenliebe wichtig. Ich habe mich gefragt: Was wäre, wenn ich oder meine Kinder auf der Flucht wären? Kein Mensch kann bestimmen, in welchem Land er geboren wurde und im welchem sozialen Umfeld er aufwächst. Kinder sind das schwächste Glied in der Gesellschaft.“

In den vergangenen drei Jahren stellte die leidenschaftliche Theaterspielerin und Malerin ihre Hobbys zurück, um speziell einer Familie aus Afghanistan zu helfen. Die sechsköpfige Familie musste fliehen, weil die Taliban den Vater, der mit dafür zuständig war, die Opiumfelder zu zerstören, brutal zusammenschlugen. Das Leben der Eltern und Kinder war bedroht, „sie mussten ihr schönes Haus und alles zurücklassen“, schildert Fiedler. Über Schleuser und für viel Geld konnten sie in die Ukraine fliehen und kamen zu uns. Die Mutter blieb zurück, weil sie als Mitarbeiterin der UNO im Camp geschützt war.

Weihnachten gemeinsam gefeiert

Statt Leinwand und Pinsel sammeln sich also nun dicke Aktenordner in Ingrid Fiedlers Zimmer. Denn zu regeln ist viel für Menschen, die zum ersten Mal mit dem deutschen Amtsschimmel, Vermietern und Handy-Anbietern zu tun haben. Die deutsche Sprache zu lernen, sei nur das geringste Problem für Geflüchtete, wissen die Fiedlers – „mich regt auf, dass viele Deutsche so tun, als wäre damit die Integration schon erledigt“, schüttelt Ehemann Alfons den Kopf angesichts von aktenweise Behördendeutsch, Kleingedrucktem – und auch Ressentiments. „Wir haben ein Jahr lang eine Wohnung gesucht, leider wollen viele Vermieter keine Migranten aufnehmen.“

Es sind aber die kleinen Fortschritte in Richtung Integration, die der Ehrenamtlichen die meiste Freude machen: In der Anfangszeit waren Schwimmen und Fahrradfahren ohne lange Ärmel und Hosen für die Tochter der Familie undenkbar – trotz 35 Grad. „Ich habe ja schon in kurzen Sachen geschwitzt...“, lacht Ingrid Fiedler. Und sie räumte unter den Ansichten der älteren Brüder und des Vaters ganz schön auf: „Bei uns gilt ein freiheitliches Denken.“

Es kostet Zeit, Kraft und Verantwortung

Inzwischen sehen die Männer der Familie schon vieles anders, ebenso wie die Mutter, die vor Kurzem nach Deutschland gekommen ist. Gemeinsam fährt man Tretboot, spielt Minigolf, geht zur Kirmes – wie alle anderen auch. Und zu Weihnachten sitzt man gemeinsam am Tisch, feiert und tanzt. „Einmal haben wir unseren Tanz live nach Afghanistan zur Mutter übertragen, dann hat sie über Video für uns getanzt. Es war ein wunderbarer Abend.“

Würde Ingrid Fiedler die Anstrengung noch einmal machen, nachdem sie nun weiß, wie viel Zeit, Kraft und Verantwortung es kostet? „Manchmal dachte ich, ich kann nicht mehr, aber dann habe ich die Kinder gesehen – ja!“

>>> HELDEN DES ALLTAGS: DIE LESER ENTSCHEIDEN

Die WAZ hat mit der Aktion „Menschen machen’s möglich“ gemeinsam mit der Rheinisch-Westfälischen Wasserwerksgesellschaft (RWW) aufgerufen, Mülheimer zu benennen, die sich ehrenamtlich engagieren. Zehn Kandidaten stehen nun fest, die wir nacheinander in der WAZ in einem Porträt vorstellen.

Nach der Vorstellung aller Ehrenamtler und ihrer vorbildlichen Projekte können Sie, liebe Leser, für einen der Kandidaten stimmen. Die drei Mülheimer mit den meisten Stimmen erhalten Geldpreise, die beim Bürgerempfang am 6. September durch Oberbürgermeister Ulrich Scholten übergeben werden.