Mülheim. . Ursula Radetzki fertigt kleine Puppen aus Wolle an und achtet dabei auf jedes kleine Detail. Und das obwohl die 90-Jährige Arthrose hat.
Im 18. Stock eines Hochhauses sitzt eine Frau mit weißem Haar vor einem riesigen Fenster und schaut – anstatt den Ausblick über Mülheim zu genießen – ganz konzentriert auf ihre Hände. An ihrem linken Zeigefinger entsteht ein kleiner Blutstropfen. „Das passiert schonmal“, sagt Ursula Radetzki und fährt unbeirrt damit fort, die braune Wolle in ihrer Hand mit einer Nadel zu bearbeiten. „Das könnten dann die Haare sein“, erklärt sie. Die 90-Jährige fertigt kleine Puppen aus Märchenwolle an. Das ist fein gekämmte und eingefärbte Schafswolle.
In ihrem Arbeitszimmer steht auf einem Regal ein kleiner Marktplatz mit elf der etwa zehn Zentimeter großen Figürchen – außerdem Hunde, kleine Fische, Eier und Torten aus Ton, sogar Kirschen aus kleinen roten Perlen.
Seit drei Jahren fertigt sie Wollpuppen
Seit etwa drei Jahren fertigt Radetzki die kleinen Wollpuppen nun an. „Stundenlang sitze ich daran“, sagt sie. Das sei besser, als ihre Zeit nur vor dem Fernseher zu verbringen. Und: „Es befriedigt mich. Ich freue mich immer, wenn mir etwas gelungen ist.“ Auf die Idee brachte sie ihre Enkelin. Die hatte mit ihren Kindern ähnliche Figuren gebastelt und wusste, dass ihre Großmutter Freude am Kunsthandwerk hat. „Ich hatte immer den Berufswunsch Goldschmiedin, aber nach dem Krieg hat keiner einen Lehrling genommen“, erzählt sie. Darum arbeitete sie ein paar Jahre in einer Kunstgewerbefirma, bis diese nach der Währungsreform 1948 schließen musste.
Ursula Radetzki wurde 1927 in Hamburg geboren. 1956 zog sie gemeinsam mit ihrem Mann und ihren vier Kindern ins Ruhrgebiet. Freunde und Familie reagierten auf diese Nachricht verständnislos, erzählt Radetzki. „Die meinten: Seid ihr verrückt? Wie könnt ihr da in den Dreck ziehen?“, sie lacht. Nach den ersten Besuchen seien aber alle überrascht gewesen über die Nähe zur Natur und darüber, dass Mülheim auch schöne Ecken habe.
Familie lebt in ganz Deutschland
Auch wenn Radetzkis Kinder alle in Mülheim groß geworden sind, lebt die Familie heute in ganz Deutschland verteilt. Nur eine Tochter wohnt noch in der Stadt. Die Liebe zur Kunst liege in der Familie, sagt Radetzki. „Meine Cousine ist Kunstmalerin, meine Enkelin Malerin und Musikerin.“ Und auch sie selbst habe immer gemalt, für sich und ihre Kinder Kleidung gestrickt oder genäht. „Ich habe früher auch mal Schmuck gemacht.“ Aus dem Nebenzimmer holt sie mehrere Broschen mit Perlen, Kunstharz und aus bemaltem Porzellan. Als es noch keine Geschäfte gab, in denen man günstig Schmuck kaufen konnte, hat Radetzki ihre Broschen verkauft. Das war vor etwa 45 Jahren. „Irgendwann wurde ich es nicht mehr los“, erzählt sie. Alle Familienmitglieder, Freunde und Bekannte waren versorgt. Ein paar Broschen hat sie aufbewahrt, die trägt sie bis heute.
Nachdem sie die Schmuckproduktion aufgegeben hatte, hatte sie die Idee, Geburstagskarten zu gestalten. „Die waren nicht so aufwendig“, erklärt sie. Damals wurde ihr Mann krank und sie investierte ihre Zeit in seine Pflege. Nach seinem Tod bemalte sie weiterhin Karten, beklebte sie mit Blumenmotiven und Glitzersteinen oder fertigte darauf reliefartige Bilder aus Deko-Ton an. Zu dieser Zeit malte sie auch Bilder am Computer, vor allem Seemotive wie Strände, hier und da einen Leuchtturm. Eine Erinnerung an Hamburg.
Püppchen sind ihr ans Herz gewachsen
„Am meisten Spaß machen mir die Wollpüppchen“, sagt Radetzki. Es begeistere sie, „alles im Kleinsten herzustellen.“ Trotz Arthrose fädelt sie mühelos Perlen auf und bindet ihren Wollpuppen Schleifen in die feinen Haarsträhnen. „Da wundere ich mich selbst“, sagt sie. „Wenn ich ein Medizinfläschchen oder eine Flasche Sprudel öffne, fällt mir der Deckel einfach aus der Hand.“ Auch wenn sie Sorge hat, wo sie all ihre Figuren mal unterbringen soll, verkaufen möchte sie sie nicht. Zu sehr sind sie ihr ans Herz gewachsen.
In Kunstgewerbefirma gearbeitet
Ein Jahr vor ihrem Abitur verließ Ursula Radetzki die Schule. Der Krieg war vorbei und sie wollte Geld verdienen.
Ihren Berufswunsch, Goldschmiedin, konnte man ihr im Arbeitsamt nicht erfüllen. Vermittelte sie aber an eine Kunstgewerbefirma. Dort blieb sie von 1946 bis 1948, gravierte Wandteller, Teekessel und Aschenbecher. 1950 heiratete sie ihren Mann, sie bekamen vier Kinder. Heute hat die 90-Jährige acht Enkelkinder und vier Urenkel.