Mülheim. . Mit Vorträgen und Ausstellungen öffnet Dr. Kai Rawe das Haus der Stadtgeschichte für die Mülheimer. Ein Interview mit dem Stadtarchiv-Leiter.
Sein zehnjähriges Dienstjubiläum als Chef des Stadtarchivs feiert Dr. Kai Rawe am 2. Januar 2018. Die etlichen Verzögerungen und täglichen Überraschungen beim Umbau der Alten Augenklinik zum Haus der Stadtgeschichte haben ihn manch graue Haare gekostet. Im September 2013 wurde das Gebäude dann eröffnet. Nach vier Jahren Betrieb sind das heute für ihn Anekdoten. Mit Vorträgen und Ausstellungen öffnet Kai Rawe das Haus verstärkt für die Mülheimer Bürger.
Früher hat man sich einen Archivar eher wie eine Wühlmaus zwischen staubigen Akten vorgestellt. Wie hat sich das Berufsbild verändert?
Es gibt sicherlich immer noch diese Wühlmäuse und die zurückgezogen vor sich hin archivierenden Kolleginnen und Kollegen. Aber wenn man auf die Realität eines Archiv-Leiters guckt, dann ist man inzwischen deutlich davon weg. Die Anforderungen sind heute ganz andere als vor 20 Jahren.
Was wären das für Anforderungen?
Wir haben mit der Digitalisierung ein großes Thema vor der Brust. Genauso wie die überregionalen großen Häuser müssen wir dafür sorgen, dass auch in der Zukunft unsere Gegenwart als Vergangenheit erforschbar sein wird. Wir haben die Verantwortung dafür, dass unser digitales Jetzt irgendwann einmal unsere Vergangenheit ist. Und wenn wir das nicht machen, macht’s kein anderer. Insofern ist man an den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts an zentraler Stelle dran.
Wie wichtig ist die Außenwirkung mit Ausstellungen und Vorträgen?
Zum einen ist es mein Selbstverständnis als Leiter des Stadtarchivs Mülheim an der Ruhr, dass die Menschen wissen sollen, was ihre Stadtgeschichte bereithält und was es an interessanten, spannenden, schönen und traurigen Geschichten zu entdecken gibt. Es ist mir ein Anliegen, die Stadtgeschichte zu vermitteln. Andererseits gibt es einen gesetzlichen Auftrag, dies zu tun. Es gibt im Archivgesetz die Definition, dass wir nicht nur bewahren, sondern auch erschließend zugänglich machen und vermitteln sollen. Dazu gehört es, die Türen aufzumachen und die Stadtgeschichte nach außen zu tragen.
Wie gelingt es, trockene Geschichte in Vorträgen locker rüberzubringen?
Es ist eine gewisse Gratwanderung zwischen Banalisierung, Konkretisierung und der Zugänglichkeit. Aber es ist wichtig, dass man versucht, sich von dem etwas Drögen zu befreien, dass man tolle und spannende Geschichte so vermittelt, dass auch derjenige, der kein tiefer gehendes Interesse hat, trotzdem das Gefühl hat: Ach, das war aber doch irgendwie interessant. Als Wissenschaftler muss man da raus aus seinem Elfenbeinturm.
Sie kooperieren mit dem Haus Ruhrnatur. Die Ausstellungen mit alten Postkarten sind niederschwellig und sehr sehenswert.
Ja, das ist ein schönes Beispiel dafür, dass so etwas geht. Ich versuche darauf zu achten, dass diese Dinge nicht als Alibi-Veranstaltung passieren, sondern dass sie mit Herzblut meinerseits gemacht werden. Damit die Menschen in dieser Stadt das Gefühl haben, Geschichte ist nicht nur irgend etwas, was da oben am Hingberg passiert, sondern für sie interessant ist.
Schlägt sich das auch in den Besucherzahlen bei Vorträgen nieder?
Wir merken, dass es eine positive Wendung im gesamten Bereich der Veranstaltungen und Vorträge gegeben hat. Wir haben viele Jahre in der Alten Post Vorträge veranstaltet, da hatten wir auch schon immer sehr gute Zahlen, da konnte ich mit einem gewissen Stolz darauf verweisen. Referenten von außerhalb waren immer ganz angetan, wie viele Leute zu den Vorträgen in Mülheim kommen. Wir haben diese Zahlen sogar ein bisschen steigern können. Und wir haben festgestellt, dass die Besucher sehr themenbezogen zu uns kommen und Vorträge bewusst auswählen. Dadurch haben wir Menschen im Publikum, die wir früher nicht gesehen haben.
Befruchtet sich die Hausgemeinschaft mit den Musikschülern?
Wir hören sie vor allen Dingen, wenn sie nach den Sommerferien allmählich auf die Weihnachtkonzerte eingestimmt werden (lacht). Konkrete Berührungspunkte mit der Musikschule haben wir bei Kooperationsprojekten, beispielsweise bei den Ausstellungseröffnungen.
Ist es ein Stück Arbeit, junge Menschen für Geschichte zu interessieren?
Ein Stück Arbeit ist es allemal. Wir versuchen das und machen das auch erfolgreich. Man darf aber die Messlatte nicht zu hoch hängen. Es sind immer mal wieder Schüler da, die für Facharbeiten recherchieren. Wir haben Schulkooperationen, wo ganze Schulklassen das Archiv kennen lernen oder an Projekten arbeiten. Und wir haben regelmäßig Schüler, die bei den Stolpersteinen mitarbeiten. Wir selbst begleiten Schulen bei Projektwochen zu historischen Themen, sind ein außerschulischer Lernort.
Gibt es heute noch viele Mülheimer, die wegen der Familienforschung im Stadtarchiv recherchieren?
Ja, das ist immer noch ein großes Hobby. Ich würde mal sagen, dass die große Masse unserer Einzelbesucher, die zu uns kommen, anhand von allen möglichen Unterlagen versuchen, ihre Vorfahren zurückzuverfolgen, um Stammbäume zu erstellen.
Machen sich die Haushaltskürzungen bemerkbar?
Ja, natürlich. Wir versuchen, mit knapper werdenden Ressourcen trotzdem die Aufgaben, die uns auch Spaß machen, zu erfüllen. Aber wir merken das schon. In den knapp zehn Jahren, in denen ich Archiv-Leiter bin, sind Stellen gestrichen worden, ist unser Budget kleiner geworden. Wir haben aber zusätzliche Aufgaben bekommen, dafür weder mehr Geld noch Personal erhalten. Wir haben 2009 mit der Änderung des Personenstandsgesetzes die Zuständigkeit für bestimmte Jahrgänge der Standesamtsregister und den daraus resultierenden Anfragen bekommen, die bis dahin beim Standesamt bearbeitet wurden. Es sind Anfragen, die teils für beamtliche Zwecke nötig sind, wie Rentenfragen, Nachlassgerichte, Erbenermittlung etc. Das ist viel Arbeit und dafür ist kein Ausgleich an irgendeiner Stelle erfolgt. Und jede neue Sparrunde bedeutet ein weiteres Engerschnallen des Gürtels und weiteres Strecken der Mittel auf alle unsere Aufgaben.
Was würden Sie sich vom Christkind fürs Stadtarchiv wünschen?
Ich würde mir vor allem wünschen, dass die Wertschätzung und die positive Begleitung bei dem, was wir tun, durch die Mülheimer Bevölkerung auch so bleibt. Dass wir weiterhin als eine wertgeschätzte Kultureinrichtung auch lebensfähig bleiben können.