Mülheim. . Hunger, Armut, Flucht - Maria Neumanns Interpretation des mehr als 200 Jahre alten Märchens schlägt den Bogen zu den Fragen der heutigen Zeit.
- Maria Neumann schlägt mit ihrer Interpretation den Bogen zu heutigen Flüchtlingsdramen
- Zu Vorbereitung sprach sie auf verschiedenen Veranstaltungen mit Kindern über Hunger, Armut
- Die Kinder bemalten auch das Haus, das bei der Vorstellung als Requisit auf der Bühne steht
Was die Gebrüder Grimm da im Jahr 1812 unter dem Namen „Hänsel und Gretel“ in ihre Märchensammlung aufgenommen haben, war schon ein drastischer Fall von Kindesvernachlässigung, ja richtig kriminell war das. Aber das Märchen ist auch eine Schilderung von bitterer Not und Armut und damit auch ein sehr gegenwärtiges Thema. Wenn Maria Neumann das spielt, verliert das Märchen zwar seine Schwere, aber die Dringlichkeit der Themen bleibt auch für die Kinder spürbar. Die 57-Jährige, die seit knapp 20 Jahren mit ihrer Märcheninterpretation begeistert, bezieht ihre jungen Zuschauer immer wieder in ihr Spiel mit ein.
Bei der Vorbereitung zu Hänsel und Gretel hat sie das ganz besonders intensiv getan. So ist sie schon im vergangenen Jahr auf den Weihnachtsmarkt gegangen und im Sommer zu den Weißen Nächten am Raffelberg und hat dabei Kinder animiert, das kleine Papphäuschen zu bemalen.
Lust und Fantasie entwickelt
Gleichzeitig suchte sie das Gespräch zu den Kindern und war überrascht, mit welcher Ernsthaftigkeit sie über die Themen Hunger und Armut sprachen, dabei aber auch große Lust und Fantasie entwickelten. „Papa, es geht nicht um früher, es geht um heute“, sagte ein Junge, was sie freute und auf dem bemalten Häuschen schrieben sie auch intuitiv die Jahreszahl 2017.
Mit rund 20 Kindern ging Maria Neumann ins Tonstudio, um solche Sätze aufzunehmen. Während der Aufführungen werden diese Sätze eingespielt, wenn die im Wald ausgesetzten Kinder schlafen. „Ist der Ofen schon heiß“, hört man einmal. Die Schauspielerin ist gespannt, wie ihr junges Publikum (das Stück ist für Kinder ab 6 Jahren geeignet) auf die Sätze reagiert. Hauptrequisit – das bemalte Häuschen kommt erst in der Schlussszene zum Vorschein – ist ein Umzugskarton, ein robustes und flexibel einsetzbares Material, das aber auch für Obdachlose unentbehrlich ist. Deswegen ist sie auch schon mit dem Haus ganz symbolisch auf die Straße gegangen.
Viele Kinder verfügen über Fluchterfahrung
An einer Stelle heißt es, „Hänsel und Gretel gelangten an ein großes Wasser.“ Weder ein Steg noch eine Brücke ist zu sehen, der ihnen die Flucht aus der Fremde ermöglichen könnte. Was im Märchen ein rettendes Entlein ist, wird hier zum Karton. Wind braust auf, es stürmt und wird eine schwierige Überfahrt. „Bei den Märchenaufführungen stelle ich fest, dass zunehmend viele Kinder in der Familie über Fluchterfahrungen verfügen“, erzählt Maria Neumann.
Die treibende Kraft ist die Mutter. Sie schlägt vor, die Kinder im dichten Wald auszusetzen. Von dem Vater ist nichts zu erwarten. „Aber auch die Hexe ist niemand, von der Gewalt ausgehen könnte“, sagt Neumann. Sie erscheint schon in der Gestalt der Mutter. Man spürt, wie das Böse von ihr Besitz zu ergreifen sucht. Neumann wechselt in ein tiefes Röcheln, das den klaren Klang verdrängt. Die Mutter schnappt nach Luft und greift sich selbst mit den Händen an den Hals, als gelte es sich zu befreien.
Backperformance gegen die Hexe
Bei der Probe läuft Neumann rasch nach hinten und holt eine Rührschüssel, in der ein Teigklumpen liegt. „Wir machen eine Backperformance und die Kinder können dann gemeinsam und solidarisch die Hexe unschädlich machen.“
Ein wichtiger Punkt für die Leichtigkeit ist die Musik von Gerd Posny, die immer einen Hauch Melancholie in sich trägt, und das hinter dem Vorhang von Bekim Aliji angedeutete Hexenhaus zeigt auf der einen Seite die Verheißungen der Werbungen mit all den bunten Verpackungen und auf der anderen Seite die Köstlichkeiten. Am Ende, als die Kinder nach ihrer Irrfahrt durch die Fremde wieder nach Hause kommen, heißt es dann lakonisch, was tatsächlich so ähnlich bei den Gebrüdern Grimm steht: „Der Vater hatte keine ruhige Minute, die Mutter war tot.“
Premiere am Sonntag, 15. Oktober
Premiere ist am Sonntag, 15. Oktober, 16 Uhr, Probebühne, Akazienallee. Karten: Erwachsene 6,50 Euro und Kinder 3 Euro : 599 01 88.